Man schwört auf Chia-Samen, wählt für das Kind die bestmögliche Kita, plädiert für die Willkommensgesellschaft und für Kommunismus light. Klischees für die von nicht wenigen belächelte Prenzlauer-Berg-Boheme gibt es reichlich und manche stimmen ja auch. Obgleich deren mehrheitlich progressive Haltung beinhaltet, sich für die Armen und Entrechteten einzusetzen, fährt mancher die Ellbogen dann doch aus, wenn die eigenen Schäfchen betroffen sind, zum Beispiel satten Mieteinnahmen die Deckelung droht.
Von solchen und ähnlichen Paradoxien erzählt Anke Stelling in ihrem gallig-bissigen und mit dem diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse prämierten Roman Schäfchen im Trockenen. Und da sich die Jugend ihrer Protagonistin in Stuttgart abspielt und besonders die Berliner Prenzlschwaben für eine liebenswerte Hybris berüchtigt sind, passt die Uraufführung am dortigen Kammertheater perfekt ins Bild. Es darf geschwäbelt werden.
Nach wilden Berliner Jahren findet sich Resi als Schriftstellerin und dreifache Mutter in einer Ehe mit einem genauso verkrachten Künstler wieder. Als ihre Freunde eine Baugruppe gründen, kommt die Familie in den Genuss, in die nun frei werdende Altbauwohnung des Ex aus Jugendjahren zu ziehen. Dann schreibt die undankbare Resi einen despektierlichen Artikel über die moderne Kommune der Freunde. Die Folge: Freundschaft und Untermietvertrag werden gekündigt. Letzeres bedeutet in Berlin bekanntlich eine Katastrophe.
Was die Autorin mit ihrem autobiografisch gefärbten Werk vorlegt, inszeniert Sabine auf der Heyde als groteskes Sozialdrama mit einem erstklassigen Ensemble. Um den Prosa-Monolog aufzubrechen, teilt sie den Erzähltext auf mehrere Schauspieler (Therese Dörr, Katharina Hauter, Sylvana Krappatsch, Sebastian Röhle) auf, die im Laufe des Abends jeweils mit Requisiten wie Brille oder Perücke ihre Rollen wechseln. Im Sinne von Andreas Reckwitz’ Studie Die Gesellschaft der Singularitäten soll damit auch immer das Besondere kultiviert werden, dabei ist das Exklusive längst Mainstream und verzweifelte Distinktionsbemühungen wirken also wie verzweifelte Distinktionsbemühungen. „Das mit den Unterschieden ist wirklich vertrackt“, heißt es einmal sehr schön im Stück, zumal wenn alle Figuren die gleichen Overalls tragen.
Es wird viel geraucht
So sieht es also aus, das vermeintlich postmaterialistische Bürgertum. Offensichtlich wird die allumfassende Dekonstruktion der Oberflächenidylle in den Familienszenen. Resi betreibt (im Roman) sehr viel Aufwand, um weiterhin dazuzugehören, obwohl sie kein einziges Schäfchen im Trockenen hat. Die Armut wird kaschiert mit Second-Hand-Klamotten, Dosenravioli mit teurem Käse aufgewertet. Denn mit kulinarischen Codes ist Resi natürlich vertraut. Das alles geht aber ziemlich an die Substanz, weshalb viel geraucht wird im Roman und auf der Bühne, alte Lebenslügen werden aufgetischt. Dazu legt Resi die ganze Zeit auch „Rechenschaft“ gegenüber der Tochter ab. Und hält Zwiegespräche mit der ehemals besten Freundin ihrer Mutter. All diese soziologischen Reflexionen stehen in bester Tradition von Didiers Eribons oder Annie Ernaux’ Memoiren.
Alles beginnt am kahlen Schreibtisch der anfangs noch erfolglosen Schriftstellerin. Ein weiterer Tisch kommt hinzu. Er steht für die Zeiten des Aufbruchs mit der Clique aus dem Schwabenland. Ein Tisch steht für einen Weihnachtsabend beim Ex-Freund aus Jugendjahren (heute auch einer aus der Baugruppe). Resi wird klar, dass sie die Klassenunterschiede damals gar nicht bemerkte, kein Wunder, sie waren nicht offensichtlich, Understatement gestern wie heute. Mitunter brüllt sie ihren Zorn heraus – die vielleicht einzigen wahren Regungen, denn um sie herum herrscht die lässige Selbstgerechtigkeit der erfolgreichen Selbstverwirklicher. Resis Traum von Selbstverwirklichung aber ist dahin. Noch schlimmer: Seinen Stallgeruch behält man immer. Und noch schlimmer: Sein Abgehängtsein kann man nicht verbergen, so die Botschaft dieser Inszenierung.
Zugegeben: Das Stereotypengewirbel und die Entlarvung von Widersprüchen durchschaut das Publikum schon nach der ersten Hälfte der zwei Stunden. Mehr Kürzung wäre wünschenswert gewesen. Dafür ist der Wiedererkennungswert frappierend, im Publikum sitzt vermutlich größtenteils das dasselbe Mittelschichtsmilieu wie auf der Bühne.
Überdies offenbart sich auch die neue ästhetische Signatur am Schauspiel Stuttgart, die mit dem Antritt der Intendanz des genialen Burkhard Kosminski verbunden ist. Bereits unter seiner Leitung des Nationaltheaters Mannheim wurde man einer ganz bestimmten Ausprägung des politischen Theaters gewahr: Nie trumpften die Stücke im plakativen Anklagemodus auf, es waren Gesellschaftsporträts, deren Abgründe gerade im Zusammenspiel mit brachialer Komik zum Vorschein kamen. Auch mit Schäfchen im Trockenen in Stuttgart verhält es sich so. Man amüsiert sich an diesem Abend viel, und manchmal bleibt einem das Lachen im Halse stecken.
Info
Schäfchen im Trockenen Sabine auf der Heyde nach einem Roman von Anke Stelling, Schauspiel Stuttgart, bis 5. Januar 2020
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.