Preis der Leipziger Buchmesse: Die Nominierten im Bereich Belletristik
Literatur Von Geschichte, Aufklärung und tragischen Schwurblern: Ein Überblick über die Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik
Die diesjährigen Nominierten zum Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik
Foto: Matthes & Seitz; Mikrotext; Penguin; Suhrkamp; Insel Verlag
Unser Deutschlandmärchen – von Dinçer Güçyeter
Märchen Dinçer Güçyeter blickt auf die Geschichte seiner Herkunft – mit Empathie und dekonstruktiver Verve
Postfeminismus trifft auf Postkolonialismus. Denn Dinçer Güçyeter, der zuletzt für Mein Prinz, ich bin das Ghetto mit der wichtigsten deutschen Auszeichnung für Lyrik, dem Peter-Huchel-Preis, prämiert wurde, bricht in seinem Debütroman Unser Deutschlandmärchen gleich mit mehreren Diskursverhärtungen und Konventionen unserer Tage, vor allem, indem er den hierarchischen durch einen empathischen Blick ersetzt. Der Sohn türkischer Gastarbeiter und ausgebildete Werkzeugmechaniker erzählt von Frauen in Anatolien und Deutschland, die ausgebe
zählt von Frauen in Anatolien und Deutschland, die ausgebeutet werden, genauso wie von Männern, die über das eigens tradierte Bild einer patriarchalen Familienführerschaft stolpern.Unterdessen erweist sich der Roman des 1979 in Nettetal geborenen Gründers des Elif-Verlags, der auf der Ebene von Ton, Klang und Bildlichkeit lyrische Elemente, mithin Spielarten des Rap, aufgreift, auch als Hommage an seine Mutter. Sie repräsentiert die Erinnerung. An sie knüpft sich die Suche nach den Düften und Gesprächen von damals. In diesem Versuch einer Rekonstruktion von Vergangenem lässt sich der Roman ebenso als Annäherung an die Gastarbeitergeneration und deren Kinder verstehen, wobei eben zur DNA dieses Textes gehört, politisch zu instrumentalisierende Unterschiede im Hinblick auf Herkunft, Geschlecht und Klasse zu unterwandern. Neu sind derlei Bemühungen angesichts etwa von Fatma Aydemirs Dschinns sowie den Büchern von Emine Sevgi Özdamar nicht. Dafür aber zeitgemäß.Placeholder infobox-1Aufklärung. Ein Roman – von Angela Steidele Töchter Angela Steideles Roman liest die Aufklärung aus weiblicher Sicht neu Die historische Aufklärung galt bislang als Männerepoche. Dass allerdings auch Frauen einen Beitrag zur, um es frei nach Immanuel Kant zu sagen, Befreiung des Menschen aus seiner (selbst verschuldeten) Unmündigkeit leisteten, macht der neue Roman der 1968 in Bruchsal geborenen Schriftstellerin Angela Steidele deutlich. In ihm stellen die Tochter Johann Sebastian Bachs und die Ehefrau Johann Christoph Gottscheds die Weltsicht des 18. Jahrhunderts, dieser für ganz Europa wichtigen Umbruchs- und Emanzipationsepoche, in der zahllose Ideen durch die Sphären der Kunst und Kultur flottierten, rebellisch auf den Kopf.Schreibend erobern sich Frauen in diesem heiter verfassten Buch einen Standpunkt zurück, der ihnen zu ihrer Zeit von den maskulinen, ansonsten progressiven Denkern und Forschern verwehrt wurde. Die übergreifende Botschaft: Die von der Aufklärung ausgehenden Gedanken zu Demokratie und Freiheit werden erzählerisch um den sich damals erst allmählich herausbildenden Wert der Gleichberechtigung ergänzt. Damit hebt die Autorin Aufklärung auf eine neue Ebene, die des diskursiven Standes der Gegenwart. Man liest ihn auch durch die Brille der heutigen Debatten um Gender-Gerechtigkeit und die Erosion von Wahrheit angesichts von Fake News. Brauchen wir also nur mehr Vernunft in diesen Tagen? Wahrscheinlich, aber sicher ist: Die Ratio beider Geschlechter ist gefragt!Placeholder infobox-2Monde vor der Landung – von Clemens J. SetzQuerdenker Verschwörungsmythen gab es schon früh – Clemens J. Setz über einen tragischen SchwurblerNoch bevor überhaupt an die heutige, problematische Ausprägung des Querdenkertums zu denken war, gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Affinität für Esoterik und spiritistische Weltanschauungen, ausgebildet und geprägt insbesondere im kuriosen Milieu aus Lebensreformern, Anthroposophen und Modernekritikern. Der Büchner-Preisträger Clemens J. Setz stellt in seinem neuen Roman Monde vor der Landung einen dieser Exoten genauer vor, nämlich den 1893 in Rheinhessen geborenen Peter Bender, der nach einer Karriere als Fliegerleutnant eine Art von eigener Religionsgemeinschaft gründet. Deren Grundidee: Die Menschheit lebt in einer Kugel. So lautet, verkürzt, die Hohlwelttheorie.Was auf ihre Verteidigung hin folgt, ist ein mehrstufiger Niedergang der Hauptfigur. Erst wird Bender wegen seiner verbreiteten Ansichten inhaftiert, später, nachdem Hitler an die Macht gekommen ist, landet dann zunächst seine Frau und anschließend er selbst im Konzentrationslager – eine tragische Figur, die Stoff für einen Roman bietet, der voll und ganz dem Bewusstsein von Schieflagen unserer Tage entspringt. Lüge und Trug sowie der feste Glaube daran erweisen sich dabei als Konstanten einer schon lange währenden modernen Orientierungskrise. Setz manifestiert Letztere übrigens auch auf Ebene der Form, da er permanent die Erzählperspektiven wechselt und sich mit Urteilen über seine Figur gänzlich zurückhält.Placeholder infobox-3Die Verwandelten – von Ulrike DraesnerKrieg Geschichten des 20. Jahrhunderts, die sich überlappen – Ulrike Draesners neuer Roman hält Erinnerung wachUlrike Draesner, geboren 1962 in München, zählt zu den wenigen Multitalenten in der deutschen Literatur. Sie beherrscht Prosa und Poesie gleichermaßen, wobei eine Trennung beider Gattungen in einigen ihrer Werke glücklicherweise nur schwer auszumachen ist. Das Poetische und Erzählerische überlappen sich also – zuletzt anschaulich in ihrem Lyrikband Doggerland und auch in ihrem neuen Roman Die Verwandelten. Er lebt von seiner atmosphärischen Vielstimmigkeit, die verschiedene Einzelschicksale und -geschichten zu Wort bündelt. Darunter: ein Mädchen, das in einem Lebensbornheim der SS zur Welt kommt, eine Köchin, die während des Nationalsozialismus verpasst, eine Frau zu finden und zu lieben, oder eine Juristin, die in Polen eine Wohnung erbt und einen bislang unbekannten Teil ihrer Familie kennenlernt.Verflochten sind die Lebensläufe jener Kämpfernaturen vor allem durch die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Krieg, Gewalt, Flucht und Vertreibung haben die Protagonistinnen vor hehre Herausforderungen gestellt, die zu bewältigen einen neuen Raum eröffnet hat, nämlich jenen zu Freiheit und Selbstbestimmung. Ein starker Roman über starke Frauen, deren biografische Brüche respektive Traumata die Erinnerungen an eine dunkle Vergangenheit wachhalten – getreu der allgültigen Devise: „Inzwischen wusste man, dass nichts, was stattgefunden hatte, einfach so wieder verschwand.“Placeholder infobox-4Prana Extrem – von Joshua Groß Metaphysik Maggi-Fix zum Heil – Joshua Groß hat einen so bunten wie subversiven Roman über geheime Energien geschriebenMan könnte ihn wohl als den Nerd der deutschen Literaturszene bezeichnen, als jenen durchgeknallten, aber stets leichtfüßigen Schreiber, dessen Aufmerksamkeit allem Abseitigen und Verqueren gilt: Joshua Groß. Dass diesen Exoten mitunter auch das Esoterische reizt, belegt sein neuer Roman Prana Extrem, worin allerlei Energien und unsichtbare Strömungen durch die Hauptfigur fließen. Nachdem der Protagonist und seine Partnerin Lisa den sechzehnjährigen Skispringer Michael kennengelernt haben, lädt Letzterer das Paar in sein Haus in Tirol ein. Dort treffen sie auf skurril-liebenswerte Gestalten, darunter die exzentrische Tante des Ich-Erzählers oder die überambitionierte Schwester und gleichzeitige Trainerin des Sportlers. Wenn man sich nicht gerade an der Schanze aufhält, philosophiert man über Zahnkrankheiten, Dinosaurier oder die überragende Menschheitserfindung der Maggi-Fix-Päckchen.Prana Extrem erweist sich in Teilen als zugestellter Gemischtwarenladen mit Räucherstäbchenatmosphäre und besticht doch mit seiner Poetik des Nebulösen, die uns in all ihrem Fabulieren über „Schwebezustände(n)“ und eine „vierte Dimension“ fast ein wenig high macht. Das klingt für manche nach Schwachsinn. Andere dürften darin den Versuch bemerken, durch Literatur wieder ein Stück Metaphysik einzufangen. In einer Epoche schwindender Spiritualität mutet diese Subversion des Mainstreams zweifellos charmant an.Placeholder infobox-5Placeholder authorbio-1
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