Der Auszug
Familienepos Ein Klassiker über den Zerfall einer lettischen Familie
Eine Geschichte über einen, der auszog: Um seiner Familie zu Reichtum und Wohlstand zu verhelfen, zieht es Noass Vējagals Ende des 19. Jahrhunderts zur Seefahrt. Er verlässt seine Frau, die unterdessen mit seinem Bruder ein Kind zeugt. Bleiben wird von dieser Familie, deren Aufstieg und Untergang durchaus an das deutsche Pendant – Thomas Manns Buddenbrooks – erinnert, wenig. Denn aufgrund von Revolutionen, Invasionen und Okkupationen verlassen die Nachkommen im Laufe der Jahrzehnte den Küstenort Zunte. Wovon der Dramatiker, Essayist, Romancier und Publikumsliebling in seiner Heimat, der 1926 geborene und 2022 in Riga gestorbene Zigmunds Skujins in seinem Opus magnum Das Bett m
Riga gestorbene Zigmunds Skujins in seinem Opus magnum Das Bett mit dem goldenen Bein. Legende einer Familie jenseits der vordergründigen Handlung erzählt, ist die wechselvolle Geschichte des lettischen Volkes. Sie reicht von der Gründung und dem Zerfall der Republik über die russische Eroberung und die Auswirkungen des Nationalsozialismus bis hin zur Eingemeindung in die Sowjetunion. Zumindest im breiten kulturellen Gedächtnis des Westens erweist sich diese Historie, gerade mit den ausführlichen Schilderungen der Kriegshölle, gemeinhin noch als eine Leerstelle. Nun können wir sie füllen. Dank der nominierten Übersetzung des baltischen Klassikers von Nicole Nau, die uns erstmals das Familienepos aus dem Jahr 1984 zugänglich macht.Placeholder infobox-1Niemand hörte sieVerdrängung Das Nachwirken einer finsteren Tat – Monika Fagerholms Roman über eine Jahre zurückliegende GruppenvergewaltigungEine Nacht, die nur auf den ersten Blick eine fulminante Party war. Denn im Keller ereignete sich hinter verschlossenen Türen etwas Abscheuliches: eine Gruppenvergewaltigung. Wie ein Erdbeben zieht sie Zerstörungen nach sich. Familien lösen sich auf, Karrieren scheitern. Und selbst als einer der damaligen Täter Jahre später zurückkehrt, um seine alte Jugendliebe zu finden, scheint der Ort des Grauens noch immer von einem Schleier des Verbrechens umhüllt zu sein. Geschrieben hat diesen Roman über Gewalt, Schuld und Verdrängung die 1961 in Helsingfors geborene Autorin Monika Fagerholm, die bereits mit zahlreichen Literaturauszeichnungen aus Norwegen, Finnland und Schweden, darunter der „Literaturpreis des Nordischen Rates“ oder der „Karl-Emil-Tollander-Preis“, prämiert wurde. Zur besonderen Spannung trägt in Wer hat Bambi getötet? übrigens der Stil bei. Seine Eleganz und Bildstärke kontrastieren nämlich auf krasse Weise den Schrecken auf der Handlungsebene. Dass mithin gerade die Trägerin des Deutschen Buchpreises, die 1974 in Potsdam geborene Antje Rávik Strubel, diesen Text über toxische Männlichkeit und Missbrauch übersetzt hat, mag kein Zufall sein. Sie selbst erzählt in ihren Prosawerken immer wieder von starken Frauen in einer patriarchalen Welt. Wohl auch die Nähe zwischen den beiden Autorinnen hat zum Gelingen dieses Übersetzungsprojekts beigetragen.Placeholder infobox-2Postkoloniale AufarbeitungKamerun Max Lobe führt uns zu einer weisen Frau in den Urwald und erzählt von der Geschichte des Unabhängigkeitskampfes in seinem HeimatlandMit der Gründung des Akono-Verlags 2021 in Leipzig verfolgte man eine hehre Ambition. Statt Bücher über Afrika zu publizieren, wollte man zukünftig die Stimmen afrikanischer Autorinnen und Autoren nach Deutschland holen. Zu ihnen zählt ebenfalls der heute in Genf lebende, aber in Kamerun geborene Schriftsteller Max Lobe. Mit seinem ursprünglich auf Französisch erschienenen Roman Vertraulichkeiten führt er uns in die Geschichte seines Herkunftslandes. Er besucht die Dörfer in der Provinz und trifft inmitten des Urwalds auf die weise Mâ Maliga. Diese Fragen treiben ihn an: Was geschah vor rund 70 Jahren im Kampf um die Unabhängigkeit Kameruns? Welche Rolle spielten die französischen Besatzer? Wer arbeitete mit ihnen zusammen? Was passierte in den Inhaftierungslagern? Und wie wurde Ruben Um Nyobè zum verfolgten Hoffnungsträger? Die betagte Erzählerin übernimmt einerseits die Funktion einer historischen Aufklärerin, schildet andererseits aber auch ihre Position als Opfer, die als Schwangere selbst in die Fänge der Unterdrücker geriet. Der von der studierten Romanistin Katharina Triebner-Cabald übersetzte Text leistet somit vor allem eine bislang unterlassene Geschichtsaufarbeitung mit erinnerungspolitischem Impetus. Er zeigt koloniale Strukturen in einem Land auf, dem bisher lange der Fokus der breiten westlichen Gesellschaft verwehrt blieb und das nun durch die Nominierung eine nachträgliche Aufmerksamkeit erhalten könnte.Placeholder infobox-3Kunst, die rettetComing of Age Ein Roman über eine Jugend im Argentinien der 1940er Jahre Manches Debüt kommt erst spät, selten sogar sehr spät. So zum Beispiel der Coming-of-Age-Roman, den die argentinische Autorin Aurora Venturini erst mit 85 Jahren publizierte. Nun liegt der Erstling von 2007 erstmals in deutscher Sprache vor, übersetzt von Johanna Schwering. In dem autobiografisch geprägten Text erzählt die 1922 in La Plata geborene und 2015 in Buenos Aires verstorbene Schriftstellerin von einer Jugend in den 1940er Jahren – allerdings keine, an die man sehnsuchtsvoll zurückdenken mag. Der Vater hat sich längst aus dem Staub gemacht, die Schwester lebt mit einer Behinderung, die Mutter ist alleinerziehend und gefühlskalt und die stotternde Yuna, die Protagonistin, muss mit den Stigmatisierungen aufgrund ihrer vermeintlichen Lernschwäche ringen. Hinzu kommt eine von männlicher Brutalität und Dominanz durchdrungene Umgebung. Den einzigen Ausweg, den die junge Heldin des Textes Die Cousinen inmitten dieser harten Welt für sich entdeckt, bietet ihr die Malerei und das spätere Studium an der Hochschule. Dort erweitert sie nach und nach ihr Sprachvermögen mithilfe eines Wörterbuchs und ist sogar bald schon in der Lage, selbst Schülerinnen und Schüler zu unterrichten. Entstanden ist somit ein juveniles Alterswerk voller schwarzem Humor und Ernsthaftigkeit – über Emanzipation, Selbstermächtigung und vor allem die heilende Kraft der Kunst.Placeholder infobox-4„Befreit von allem Groll“Lyrik Die Gedichte von Lina Atfah verarbeiten ihre Flucht aus Syrien. Bei aller Tragik zeugen sie auch von der steten Möglichkeit, dass Veränderung möglich istLina Atfahs Grabtuch aus Schmetterlingen stellt den einzigen Lyrikband auf den drei Nominiertenlisten dar. Wenn wir in dem Gedicht „Rückkehr“ auf die Verse „Und nun bin ich an deiner Tür, / befreit von allem Groll“ treffen, werden wir einer Poetin gewahr, die nicht mit Hass und Zorn auf ihre Vergangenheit und Herkunft zurückblickt. Verfolgt vom bestialischen Assad-Regime, gelang der 1989 in Salamiyah geborenen und heute in Wanne-Eickel lebenden Autorin 2014 die Flucht nach Deutschland. Nicht zu vergessen, lautet das Credo der Miniaturen. Daher lässt die Schriftstellerin mit vielfältigen Stimmen ihre ehemaligen Landsleute, darunter Überlebende von Angriffen und Kinder, zu Wort kommen. Selbst Verstorbene wie einen Dichter aus dem 6. Jahrhundert bringt Atfah mit ihren Gedichten wieder zum Vorschein. Dass sich die Lyrikerin bei all der Auseinandersetzung mit Verlust und Tod nicht nur mit der Beschreibung von Gräbern abfindet, macht sich unterdessen in den titelgebenden Insekten bemerkbar. Sie vermitteln bei aller Tragik die Möglichkeit zur Veränderung, zur Metamorphose. Entfalten kann sie sich in arabisch geprägten Metaphern und Klangwelten. Dank der Übersetzung von Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi können wir sie nun selbst erschließen. Erstere ist selbst Poetin, Letzterer syrischer Muttersprachler – wie die Auswahl der Jury dokumentiert: offenbar eine überzeugende Kombination!Placeholder infobox-5Placeholder authorbio-1