Atemnot, Magenkrämpfe, Übelkeit. Als der 24-jährige Schiller sich 1783 in Mannheim befindet, überwältigt ihn die Malaria, die damals in der Rheinpfalz ja tatstächlich grassierte. Es ist das Fieber seines Lebens, das gewissermaßen auch all seine Figuren befallen sollte. All jene verblendeten Herrscher, verzweifelt Liebenden, von Idealen Getriebenen. Indem das Nationaltheater Mannheim die 20. Internationalen Schillertage mit dem Motto „Fieber“ überschreibt, erklärt es die Erkrankung des Dichters zum Signé unserer erhitzten Zeiten.
In Mannheim sind es Schillers alte „Klassiker“, die verhandelt werden, Freiheit und Selbstbestimmung, Moral und Menschlichkeit. Seine Ideen wirken frappierend aktuell, zum Beispiel bezogen auf unsere fiebrige Social Media-Gesellschaft. Bereits in Schillers gewaltigem Liebes-/Generationen- und Politdrama Don Carlos scheint der Affektstau unserer Tage angelegt, der Populismus bei Shitstorm, die Renaissance ideologischer Evergreens.
Carlos, Sohn König Philipps II. von Spanien, liebt seine Stiefmutter. Als der Regent davon erfährt und auf Drängen seiner Berater Konsequenzen ziehen muss, werden die diversen Eskalationsstufen – Intrige, Machtspiel, Verrat – gezündet. Das Schauspiel Düsseldorf überträgt in seiner Gastaufführung Schillers Don Carlos kongenial auf heutige Gemengelagen. Fehlende Kommunikation, Fake News und irrationale Gefühlspolitik treiben die Figuren an den Rand des Wahnsinns, die im zweiten Teil noch durch Drehen der zum Rondell umgebauten Bühne das Schicksal vergeblich zu beeinflussen versuchen.
Regisseur Alexander Eisenach nutzt wenige, dafür äußerst pointierte Bilder. Sei es die gläserne Schieflage, auf der sich die Figuren aufrecht zu halten versuchen oder die Tausenden blutroten Softbälle, die auf die Bühne prasseln, als der Marquis von Posa (André Kaczmarczyk), Schillers Kämpfer für Meinungsfreiheit und Vermittler im Chaos am Hof, stirbt.
Die Sehnsucht nach Freiheit, Schillers nie versiegender Traum, spiegelt sich nicht nur in verschiedenen Gastspielen des diesjährigen Festivals, darunter eine laue Inszenierung von Kabale und Liebe (Staatsschauspiel Dresden) sowie eine freie, miserable Adaption von Die Räuber als scheiterndes Start-up zweier Brüder (Studio Beisel). Vielmehr vernimmt man sie auch in deutschsprachigen Erstaufführungen und experimentellen Arrangements. Gleich mehrere machen die desolaten Lebensbedingungen in Afrika zum Thema und verstehen sich als Weckruf an die Festung Europa.
Das zweifelhafte Wir-Gefühl
Am eindrücklichsten zeichnet Tram 83 (Regie: Carina Riedl) in einem Mannheimer Club das Panorama einer von Sex, Gewalt und Perspektivlosigkeit bestimmten Endzeitgesellschaft, irgendwo auf dem schwarzen Kontinent, nach. Immer wieder richten die Theater ihren Blick aber auch auf innere Eruptionen der westlichen Wertegemeinschaft. „Hier festigt sich unsere nationale Gemeinschaft“, schallt es uns vom marschierenden Ensemble des unter dem ironischen Titel Hymne an die Liebe firmierenden Chorstücks entgegen. Was mit Versatzstücken patriotischer Liedern beginnt, spitzt sich in Intonationen der kruden Äußerungen des Terroristen Anders Breivik zu. Der leierhafte Ton sowie die getakteten Schritte – eine berserkerhafte Kombination, die unmittelbar an Einar Schleef erinnert – versetzen die Zuschauer in eine Art unheimlicher Trance. Dokumentiert wird damit ein zweifelhaftes Wir-Gefühl, das die Rechtsnationalen der Gegenwart klug für ihre Zwecke einzusetzen wissen. Und so wird in einer Szene aus einem Block, der anfangs nur bekundet, aus ganz gewöhnlichen Menschen zu bestehen, sukzessiv eine kläffende Hundemeute. Ein Gruß an alle Wutbürger.
Beklemmung, Paranoia, gefühlte Unsicherheit – Schillers Fieber wirkt im übertragenen Sinne ebenso in unserer spätmodernen Überwachungsgesellschaft, wie die Inszenierung Mannheim 2.480 oder die subjektive Sicherheit veranschaulicht. Regisseur Clemens Bechtels führt in die Echokammern der sozialen Netzwerke, wo sich Gerüchte, beispielsweise zur Kriminalität, zu vermeintlichen Fakten verfestigen. Nachdem die Zuschauer zur Multihalle im Herzogenriedpark gefahren werden, durchlaufen sie diverse Stationen. Sie geraten in eine üble Toilettenszenerie mit Kiffern, in der eine latente Aggressionsstimmung herrscht, danach finden sie sich auf einer Gartenparty wieder, die mit der Erschießung eines Einbrechers endet. Zuletzt kommen die Akteure im Hauptraum zusammen, um das Heil der jedwede Individualität zugrunde richtenden Transparenzgesellschaft zu zelebrieren. Derweil versorgen Kopfhörer die Zuschauer permanent mit O-Tönen beängstigter Bürger – ein immersives und faszinierendes Theater, das deutlich an die Machart von Computerspielen anknüpft.
Was bleibt also von Schiller und den Schillertagen in Mannheim? Gesellschaftskritik: ja, Erregungskurven: ja, wuchtige Spielweisen und Texte: zweifelsohne. Unter dem neuen Intendanten Christian Holtzhauer darüber hinaus vor allem eines: Mut zum Experiment, Mut zu theatralischer Radikalität – sowohl in der Ästhetik als auch der politischen Haltung für ein freies Europa.
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