Von Gefahrenträgern

Videokunst Die russische Dokumentarfilmerin Yulia Loskshina versteht unter „Risikogruppen“ etwas anderes
Ausgabe 29/2020

Sehen wir die Welt durch Corona wirklich klarer? Oder führt der Blick durch dieses Brennglas nicht langsam zur Ausblendung all dessen, was sich außerhalb dieses Kreises ereignet? Dass sich unsere Wahrnehmung im Laufe der letzten Monate sichtlich verengt hat, veranschaulicht die kleine, intelligent konzipierte Ausstellung Risikogruppen mit Videoarbeiten der Dokumentarfilmerin Yulia Lokshina.

Anders als erwartet stehen im Zentrum der Ausstellung nicht die durch Corona besonders Gefährdeten, sondern die den gesellschaftlichen Frieden schon länger beeinträchtigenden Gefahrenträger. Für die 1986 in Moskau geborene Künstlerin, die auf der Schnittstelle von Dokumentation und Filmkunst arbeitet, sind das zum Beispiel Hetzer und Kriegstreiber, die etwa auf der russischen Insel Sachlin ein bedenkliches „Sommercamp“ gegründet haben. Dort werden Jugendliche zum bewaffneten Kampf für das Vaterland erzogen. Yulia Lokshinas Aufnahmen (Tage der Jugend, 2016) zeigen pubertäre Jungs im simulierten Schussgefecht und Mädchen, die vor Panzern eine Tanzchoreografie zum Besten geben. In einer anderen Frequenz offenbart sich das aus Gehirnwäsche und perfider Waffentechnologie hervorgehende Leid, nämlich die noch immer von Folgeschäden des Vietnamkriegs gezeichnete Bevölkerung.

Wie Aerosole in der Luft

Das Coronavirus ist aber in der Ausstellung durchaus präsent – und zwar auf höchst aktuelle Weise, als hätte die Künstlerin die „Causa Tönnies“ vorhergesehen. So sind in einem anderen Raum Filmaufnahmen von Schlachtarbeitern aus Osteuropa zu sehen. Gezeigt wird der Film Bei hoher Geschwindigkeit (2020) etwa, mit dem Lokshina ihr Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film München abschloss. Der unter anderen mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnete Film wird im Herbst in deutschen Kinos zu sehen sein. Zu hören sind in der Installation teils grausame Prosatexte des russischen Autors Daniil Charms aus dem frühen 20. Jahrhundert. Da diese aus von der Decke herabhängenden Soundglocken kommen, drängt sich unmittelbar der Eindruck auf, dass das System Fleisch uns alle irgendwie umgibt, durch den Konsum, durch Nachrichten und Bilder, die wir schwer ertragen. Es ist unsichtbar in unserer Mitte, wie von Viren besetzte Aerosole in der Luft.

Zweifelsohne ruft die Werkschau Beklemmung und Unbehagen im Besucher hervor. Allerdings gewährt der dritte Stock des inzwischen zu künstlerischen Zwecken genutzten Alfons-Kern-Turms mit Positionen junger KünstlerInnen auch komische Seitenblicke auf die gegenwärtige Krise. So findet man dort etwa ausgestellte Medikamentenpackungen und skurrile Nachbauten sogenannter Symbelyonten, also Parasiten, die im Körper mitunter die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen intensivieren sollen. Wer jedoch meint, es bei Nina Hanselmanns Produkten mit der Realität oder gar mit Wissenschaft zu tun zu haben, der irrt. Alles Fake. Ein Schelm, wer sich hierbei an all die Verschwörungstheorien rund um Corona erinnert fühlt. Nach der Ausstellung mag man nicht nur unsere Diskussion über das Virus in einem neuen Licht sehen, auch der momentan etwas vernachlässigten systemrelevanten Funktion von Kunst als Raum für Spiegel- und Gegenbilder wird man eindrucksvoll gewahr.

Info

Risikogruppen – Ausstellung von Yulia Lokshina im A.K.T. Alfons-Kern-Turm, Pforzheim, bis 2. August 2020

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