Theater Georg Büchners „Woyzeck“ hat Goethes „Faust“ als meistinszeniertes Stück auf den deutschsprachigen Bühnen abgelöst. Kein Wunder, bei den Zuständen da draußen
Deine Liebe tötet mich: Georg Büchners „Woyzeck“ in einer Inszenierung am Hamburger Thalia Theater 2010
Foto: Marcus Brandt/dpa
Herrje, wie konnte das nur passieren? Der Deutschen deutschestes Drama, Goethes Faust I von 1808, wurde vom Sockel gestoßen. Wie die Zeitschrift Die deutsche Bühne berichtet, rangiert die Tragödie in der beginnenden Spielzeit nicht mehr auf dem ersten Platz hinsichtlich der meisten Inszenierungen, lediglich zweimal steht sie auf dem Programm – in Kaiserslautern und am Volkstheater Wien. Dafür ist ein anderes literaturhistorisches Werk aufgestiegen, nämlich Georg Büchners Woyzeck aus dem Jahr 1879. Ganze zwölfmal wird das Stückfragment in den nächsten Monaten Premiere feiern, darunter in Bochum, Dortmund und am Deutschen Theater Hamburg. Ein markanter Wechsel, der sicherlich kein Zufall ist.
Der Sturz des Titanen der Weimarer Klassik dü
Titanen der Weimarer Klassik dürfte viele Gründe haben. Zu den offensichtlichen zählt wohl die gewachsene Sensibilität für Geschlechterverhältnisse. Schließlich gerät der titelgebende Universalgelehrte, nachdem er mit dem Studium der Bücher an die Grenzen des irdischen Wissens gestoßen ist und diabolische Mächte heraufbeschwört – verführt vom charismatischen Mephistopheles –, rasch auf moralische Abwege. Denn auf den Wunsch hin, endlich auch Einlass in das Reich der Begierden zu erhalten, spielt ihm sein gerissener Widerpart das unschuldige Gretchen zu, das der Wissenschaftler skrupellos schwängert und zuletzt als Kindsmörderin einsam im Gefängnis zurücklässt. In dieser Männerwelt gleicht die Frau nur einer verschiebbaren Schachfigur. Oder nicht?Geiler Faust und arme GreteRegisseure haben in der vergangenen Dekade jedenfalls vielfältige Deutungen der treuherzigen Margarete vorgenommen. In Nicolas Stemanns inzwischen kanonischer Faust-Umsetzung (erstmals auf den Salzburger Festspielen 2011 zu sehen) wird sie beispielsweise von der äußerst selbstbewussten Patrycia Ziółkowska verkörpert, die in der Gefängnisszene den nunmehr verwirrten Faust niederringt und mit seiner Schuld konfrontiert. Die Mehrheit der Aufführungen schießt sich allerdings auf drastisch die Misogynie offenlegende Zugänge ein. In Philipp Preuss’ Inszenierung in Heidelberg 2018 rollten die lustgeilen Männer minutenlang über das geschändete Gretchen. In der ebenfalls 2018 am Theater Heidelberg aufgeführten Opernvariante von Charles Gounod durch Martin Berger wurde die Frauenfeindlichkeit in Goethes Drama noch durch chauvinistische Sprüche von Arthur Schopenhauer und Elfriede Jelineks radikalfeministische Überschreibung des Stoffes FaustIn and OUT von 2014 untermauert.Zur Figur des Gretchens gehört aber auch, dass sie ihrem kurzzeitig Geliebten im Kerker eigentlich einen Erkenntnisschritt voraus ist. „Gericht Gottes!“, ruft sie, „Dir hab ich mich übergeben“, und belegt damit ihre Zuversicht in Gott, wohingegen Faust noch gänzlich im trügerischen Bann des hedonistischen Dandys Mephistopheles befangen ist. Deswegen wird sie auch erlöst. Sie ist es letztlich, die entgegen der Macht des Teufels die Gültigkeit des bereits im Prolog zum Ausdruck gebrachten Plans des Himmelsherrn bestätigt. Mephisto mag in diesem Vorspiel zwar zu Beginn behaupten, Faust als den idealen, immerzu weiterentwickelnden Menschen zum Stillstand bringen zu können – doch Gott weiß, dass das Streben und das Werden dasjenige ist, worauf das Dasein gebaut ist. Von Anfang an steht fest: Das Gute wird siegen. Faust wird am Schluss des zweiten Teils der Tragödie gerettet. Doch auch der Meister des Bösen hat seine Berechtigung im Gesamtgefüge. Nur weil es ihn gibt, nur weil Gott ihn achtet, bleibt die Welt in Bewegung. Ganz nach der Logik: Ohne Defizite gäbe es keine Notwendigkeit, nach besseren Umständen zu streben. Genau aus dieser kosmologischen Dialektik entfaltet sich das hehre Bild des stetig reifenden Menschen, das Goethes ganze Epoche durchdrungen hat.Ein weiterer Grund für das Verschwinden Fausts von den Spielplänen dürfte jedoch darin liegen, dass in einer dystopischen Großwetterlage, wie wir sie aktuell erleben, dominiert von Krieg und Klimakrise, ein derart optimistisches Werk, das souverän den Glauben an die Ordnung der Dinge und die humane Zivilisation gleichermaßen verteidigt, beinahe deplatziert wirkt. Der entgrenzte Fortschrittsdrang des Gelehrten, der an die Stelle des Schöpfers zu treten sucht, erweist sich im Lichte des Klimawandels als zunehmend zerstörerisch. In Fausts Wissensdurst manifestiert sich die Schattenseite der Hybris jenes Wissenschaftstypus, dem das Verantwortungsbewusstsein für seine Forschung und deren Folgen für Mensch und Natur aus dem Blick geraten ist.Also „Sorry for you, Johnny Goethe“, wie Reinhard Mey einst ironisch sang. Für deinen Faust gibt es aktuell allenfalls ein – wenn auch ehrenvolles – Requiem. Eine Hymne gebührt hingegen Georg Büchner für seinen ersten Platz in dieser Spielzeit. Sein Held verkörpert das krasse Gegenmodell zum Tausendsassa des Weimarer Autors. Die Geschichte dieses Dramenfragments ist schnell erzählt: Der titelgebende Antiheld lebt in einer Beziehung mit Marie. Um sie und ihr gemeinsames Kind zu ernähren, verdient er seinen Unterhalt zum einen als Diener des Hauptmanns, zum anderen als Versuchsperson für eine Erbsendiät, durchgeführt von einem gewissenlosen Arzt. Und als wären diese Umstände nicht schon genug der Malaise, muss der Protagonist noch von einer Affäre seiner Geliebten mit dem Tambourmajor erfahren. Die Summe der Verwerfungen setzt eine schreckliche Kaskade in Gang. Denn der augenscheinlich schizophrene Woyzeck hört Stimmen, die ihn letztlich zur Ermordung Maries anstacheln.Gewiss, dies ist die Geschichte der Genese eines Mörders. Geht man allerdings von einer gesellschaftlichen Begründung für seine Taten aus, erweitert sich das Spektrum der Auslegungen ungemein. Am Anfang steht dabei die schlichte und zutreffende Beobachtung des Theaterkritikers Alfred Kerr: „Woyzeck ist der Mensch, auf dem alle rumtrampeln.“ Davon ausgehend haben unterschiedliche Denkschulen spannende Perspektiven auf Woyzeck geworfen. und zwar weniger auf ihn als brutalen Mörder, sondern als Opfer.Für die Existenzialisten repräsentiert er den modernen Menschen schlechthin. Geworfen in eine haltlose, gottesferne Gesellschaft, taumelt er durch eine letztlich relativistische Welt. Er trifft weder auf Empathie, noch wird er eines ethischen Kompasses gewahr. Sein Irrewerden ist geradezu zwingend und prototypisch vorausweisend auf ein 20. Jahrhundert, dem jegliche Humanität und Moral abhandenkamen.Nicht minder eindeutig fällt das sozialistische Verständnis des Textes aus. Es sieht die Ursache des Wahnsinns des Protagonisten in einer hierarchischen Ordnung der Ausbeutungsverhältnisse. Wie eine Zange umfassen die Egoismen der verschiedenen Charaktere den anfangs an ein diszipliniertes Tier erinnernden Habenichts. Dabei berufen sich alle auf ihre partikularen Weltbilder – der Hauptmann auf die Tugend, deren Pervertierung Büchner auch in Dantons Tod anprangert, der Mediziner wiederum auf die scheinbar hehren Ziele der Wissenschaft. „Der Mensch ist frei“, behauptet er, wohl wissend, dass Woyzeck ihm gegenüber längst gefügig geworden ist.An Aktualität mangelt es dem Stoff also nicht. Ein rabiater Liberalismus und die in spätmodernen Lebensstilen auf die Spitze getriebene Singularisierung haben dazu beigetragen, dass übergreifende Werte zugunsten von Orientierungsbaukästen verloren gingen. Wahrheit hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Man kann sich im Zeitalter der Filterblasen und Echokammern in grünen, links-progressiven, national-konservativen, postmaterialistischen und vielen anderen Milieus und Submilieus bewegen. Wer zwischen diesen Sphären herumstolpert oder gar objektive Maßstäbe anstrebt, kann wie Woyzeck in eine veritable Identitätskrise geraten. Und klar, überdies prägen soziale Ungleichheit sowie ein gewachsenes Bewusstsein für Klassismus unsere Zeit und lassen unmittelbar Rückkopplungen zu Büchners geradezu visionärem Drama zu.Kurzum, in einer Gesellschaft, die sich enormen Verunsicherungen und Fliehkräften ausgesetzt fühlt, offenbart sich Woyzeck als das Stück der Stunde. Büchners gleißender Geschichtspessimismus spiegelt passgenau den Ennui unserer Gegenwart wider. Ob das deutschsprachige Theater dessen ungeachtet gerade in dieser Gemengelage auch Mut zu Alternativen finden wird? Ob es trotz seines momentanen Goethe-Blues noch ein wenig Mut zum faustischen Aufbruch entfalten wird? Es wäre – bei aller Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit der bitteren Realität – mehr denn je zu hoffen.