Wo ist der Mut hin?

Zäsur Politisches Theater braucht nach dem Shutdown steile Thesen, Rabiatheit und unbequeme Themen
Ausgabe 47/2020

W as haben wir vom Schauspiel der letzten Jahre nicht alles gelernt: Dass man kein AfD- und Trump-Fan, kein Europafeind sein sollte. Zumeist geht dem zeitgenössischen Lehrstück folgende Choreografie voraus: Linksliberale Zuschauer besuchen das Stück eines linksliberalen Autors, um einander danach zu versichern: Wir sind die Guten, Applaus! Wer heute das sogenannte politische Theater besucht, betritt zumeist haltungsmäßige Komfortzonen, empfängt Botschaften, die auf einer schlichten Dualisierung der Welt beruhen – wir, die pluralistische Gesellschaft, gegen die Populisten da draußen.

Waren die Spektakel schon immer so aufrüttelnd? Spulen wir einige Jahrzehnte zurück, zu einer Zeit, als Zuschauer noch empört den Raum verließen, als noch echte Bühnenskandale die Runde machten. Zum Beispiel zum Recherchedrama eines Rolf Hochhuth, der sich dem Unmut des konservativen Publikums aussetzte. Oder zu Christoph Schlingensiefs Show Bitte liebt Österreich, in der man MigrantInnen zur Abschiebung wählen konnte, das Stück ist bis heute umstritten. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber Konfrontation ging früher doch besser? Durch sie gelang es noch, das Publikum Alteritätserfahrungen auszusetzen, es gezielt zur Beschäftigung mit Meinungen und Haltungen abseits der loungigen Mitte zu provozieren. Das mitgebrachte Bewusstsein sollte nach der Vorstellung erweitert oder erschüttert sein.

Wo ist er nur hin, der Mut der gegenwärtigen Bühnenkünstler? Wo sind die radikalen Stücke? Stoffe gibt es genug: Gesucht wird inmitten des bequemen Trump-Bashings eine kritische Hinterfragung der US-Demokraten, auch nicht schlecht wäre ein Werk über die Rettung der Bürgerrechte in Zeiten von Corona oder die vermaledeite Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik auf nationaler wie internationaler Ebene. Zu alledem herrscht schon vor dem Shutdown tönende Leere in deutschen Schauspielhäusern. Stattdessen haben sie sich eingefunden in die von Slavoj Žižek benannte postpolitische Epoche. Der Diskurs: ein monothematischer Gaul. Wie könnte wieder mehr Relevanz entstehen?

Einer möglichen Antwort wurde man zum Spielzeitauftakt und unmittelbar vor dem Shutdown an den Münchner Kammerspielen gewahr. The Assembly/Die Versammlung bringt vieles mit, was ein ambitioniertes Theater ausmachen kann. Im Stück treffen sich an einem langen Tisch Menschen unterschiedlicher politischer Couleur. Da sitzen eine Anarchistin, eine ehemalige CSU-Politikerin und zwei Gäste mit Migrationserfahrung, die eine konservativ, der andere eher liberal. Je nach politischem Standpunkt – vom „N-Wort“ bis zu Gender-Fragen – sortieren sich aber nun die Bündnisse neu. Man fragt sich: Sind das die Tücken der Identitätspolitik? Und: Was tun, wenn manches Argument leider gut ist? Bevor der hitzige Meinungsaustausch scheitert, kommt sodann ein Impuls von den Gesprächsleiterinnen. Die Anwesenden werden gebeten, einen Brief an einen Josef Schneider zu aufzusetzen, dessen Ansichten zur Migrationspolitik alle aus der Bahn werfen. Frei von Ironisierung lässt Regisseur Chris Abraham dessen beinah zehnminütiges Interview über ein vermeintliches Erstarken des Antisemitismus durch islamische Einwanderer aus dem Off ablaufen.

Raum für Unbehagliches

Lobenswert ist dabei zunächst, dass die Inszenierung auf Wut und Sprachlosigkeit nicht mit Gegenwut und Sprachgewitter reagiert. Sie gibt einer sicherlich vielen unbehaglichen Alterität Raum. Obgleich die Diskutanten auf Basis durchweg echter Interviewaufzeichnungen gegen Herrn Schneider Stellung beziehen, suchen sie dessen Position sachlich zu verstehen. Man hört bewusst zu, um eine abstruse Dogmatik im zweiten Schritt rational zu zerlegen. Unterdessen übt sich das Theater auch in Selbstkritik. Soll man überhaupt mit Rechten reden? Die Antwort lautet hier: Ja. Denn zuletzt wird die Frage an die Zuschauer gerichtet, wie man angemessen mit Überzeugungen vom Rand umgehen kann, ohne sein Gegenüber zu diskreditieren. Sie können die Bühne betreten und den eigenen Standpunkt vortragen. Wer es tut, erlebt im Saal stillen Respekt und allerhöchste Konzentration.

Partizipation und Dokumentation – auch das ist natürlich nichts Neues in deutschen Schauspielhäusern. Man vergegenwärtige sich die Konzeptionen von She She Pop, beispielsweise ihr Stück Oratorium (2018) über die Probleme am Mietmarkt, in dem es um (selbstgerechte) Eigentümer und verdrängte MieterInnen geht und die ZuschauerInnen sich einmischen dürfen. Nicht minder existenziell fällt Milo Raus monumentales und als Film vorliegendes Projekt Das Kongo Tribunal (2017) aus. Um die Verbrechen des über 20 Jahre währenden Kriegs in dem afrikanischen Land aufzuarbeiten, bringt der Regisseur Opfer und Täter für exemplarische Gerichtsverhandlungen zusammen. Solcherlei Inszenierungen veranschaulichen, wie Theater diskursive Leerstellen im öffentlichen Raum füllen können, ohne sich auf die banale Verlautbarung von Botschaften zu beschränken.

Die Ästhetik bleibt bislang die große Verliererin des politischen Theaters unserer Tage. Das produziert Langeweile, den eigentlichen Tod des Politischen. Bringt der für alle Theater zutiefst entmutigende Shutdown nach der Wiedereröffnung eine Zäsur, steile Thesen, Rabiatheit und unbequeme Themen? Hoffentlich, denn vom Eigenen haben wir genug gesehen.

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