Wage es, zu lesen!

Buchmesse Leipzig Bücher als kategorischer Imperativ für die digitale Gesellschaft. Ein Plädoyer von Bob Blume
Ausgabe 12/2017

Nun also Leipzig. Nun also wieder das Buch. Jene aus der Zeit gefallene Ansammlung bedruckten Totholzes, die Gedanken zu einem Thema umfangreich, fast ausufernd behandelt. Das Buch verhilft dem Leser, im besten Fall, zu einer Einsicht. Oder einer Ansicht. Einer, die zuvor noch nicht da war. Ein geradezu revolutionärer Akt in einer Zeit, wo die Leute lieber eine Meinung als Ahnung von etwas haben.

Dass die Erwartungen an die Besucherzahlen der Buchmesse ähnlich wie im letzten Jahr sind, mutet erstaunlich an. Sind doch Bücher der Gegensatz zu allem, was der Zeitgeist bietet. Haltung wird zu Meinungsschnipseln in Jinglelänge verkürzt. Es hat Konjunktur, diese Schnipsel im Sturm medialer Entrüstungen dann wieder auf Feuilletongröße aufzublasen.

Das Buch überfordert in seiner narrativen Eigenart Social-Media-Enthusiasten. Nicht nur deswegen ist es ein Anachronismus. Auch die Festlegung der Messe als ein Ort, an dem sich wirkliche Menschen treffen, um von Angesicht zu Angesicht miteinander zu reden, wirkt geradezu komisch. Und das ist gut so. Die Gegenwärtigkeit globaler Aufgeregtheiten im Eilmeldungsstil, das digitale „Überall und Sofort“ reduziert unsere Aufnahmefähigkeit auf Kleinkindniveau. Leipzig hingegen zelebriert die Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Buchmessen erscheinen, inmitten eines alles zersetzenden Sturms und Drangs, wie eine späte Erfüllung von Lessings Hamburgischer Dramaturgie. Aufklärung inmitten von Empfindsamkeit.

Wir erinnern uns gerne an das Diktum, dass Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ist. Kants Formel ist kürzer als ein Tweet, und selbst heutige Abiturienten kennen sie. Aber wie immer ist ein herausgerissenes Zitat nur Abziehbild einer größeren Wahrheit. Denn Kant argumentiert auch gegen Belesenheit. Verstehen liegt für ihn gerade nicht im Lesen: „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat“, warnt er, „brauche ich mich ja nicht selbst bemühen“.

Betrachtet man die Auslagen kommerzialisierter Buchhandelsketten, versteht man Kants Ansatz sofort. Verschwörungstheoretiker bedienen das Verlangen nach einer übergeordneten, alles erklärenden Macht mit unterkomplexen, aber monetär erfolgreichen Mutmaßungen. Wer zwischen Lebenstipps und mystischen Fantastereien noch substanziellen Lesestoff findet, kann von sich behaupten, dass seine Urteilskraft im realen Leben noch funktioniert.

Inmitten der stürmerischen und dränglerischen Digitalsphäre ist Urteilskraft und kohärente Argumentation immer das, was der andere nicht hat. Wenn man Wissen in Einsen und Nullen unterteilt, kriegt jeder irgendwie einen Informationshaufen zusammen, den er zu seiner Wahrheit erklärt. Und wenn das nicht reicht, dann ist das Gefühl wichtiger als jede verifizierbare Wahrheit.

Genießen wir also den gelebten Anachronismus und treffen uns in Leipzig, um uns über Zusammenhänge, Wirklichkeit und Charaktere zu unterhalten. Üben wir von Neuem, unsere Aufmerksamkeit auf umfangreiche Abhandlungen zu legen. Häufen wir Wissen an, das keinen unmittelbaren Nutzen hat. Vielleicht würde Kant seinen Wahlspruch heute anders formulieren: Kaufe nichts von Rechts- und Ramschverlagen. Oder allgemeiner: Legere aude! Habe den Mut, dich eines vernünftigen Buches zu bedienen! Dann klappt’s vielleicht auch mit dem Twittern besser.

Bob Blume bloggt, twittert und, ach!, liest auch. Er heißt übrigens wirklich so

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Geschrieben von

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