Salvador Sobral, mehr als nur ein Außenseiter

Mission Persönlichkeit Neues (und eigentlich ganz altes) Musikkonzept erreicht sogar den ESC. Eine Antwort auf den Beitrag von Thomas Fix

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Salvador Sobral erschien auf dem diesjährigen ESC vor zwei Wochen als Außenseiter – und gewann die Trophäe offensichtlich mühelos. Doch ist Salvador Sobral mehr als nur anders. Er, der tatsächlich am wenigsten Haut von allen Kandidaten auf der Bühne zeigte, präsentierte sich doch als einziger nackt, mit all seiner Schwäche, Verletzlichkeit, mit all seinem Gefühl. Er war der einzige, der sich als Persönlichkeit entblößt zeigt, und das Publikum hat das verstanden und geschätzt. Gleichzeitig ist er nicht dumm oder naiv, im Gegenteil, seine Ironie, Offenheit und Kritik schützen ihn vor Häme und Spott, die ja fast gänzlich ausblieben, sieht man einmal von den Attacken einiger beleidigter Mitkontrahenten ab.

Dabei folgt Sobral einem uralten Konzept von Musik, wie man es zu Beginn von Blues, Gospel, Jazz, Rock und ansatzweise sogar beim Pop findet. Der Künstler präsentiert sich mit seiner ganzen Persönlichkeit, seiner Emotion, seinem Wesen und Sein, seine Musik ist Ausdruck dieser Persönlichkeit mit all ihrem Begehren, ihrer Emotion, ihrem Leid, ihrem Widerspruch. Er steht buchstäblich nackt auf der Bühne. Deshalb fällt es Sobral auch so schwer, ein Lied zweimal auf die gleiche Weise zu singen, denn man fühlt sich am Dienstag nun mal anders als am Montag.

Es ist schön und gibt Hoffnung, dass das Publikum sowohl in Portugal wie auch im restlichen Europa diese Art des Andersseins von Sobral akzeptiert hat. Er folgt einem faszinierenden, wenngleich doch so einfachen und menschlichen Prinzip. Doch über die Jahrhunderte hat der kommerzielle Kulturbetrieb sich bemüht, Persönlichkeit und Emotionen in Zwangsstrukturen zu pressen, wie in der Oper beispielsweise, wo enges Reglement die Emotionen bändigt. Und letztendlich ist es dem vor allem am Profit ausgerichteten Kulturbetrieb zu verdanken, dass Emotionen zwar im Sekundentakt über Bühnen und den Äther gejagt werden, dabei jedoch technisch perfekt aufbereitet, steril in Häppchen verpackt, die den größtmöglichen Verkauf garantieren. Persönlichkeiten sind dabei austauschbar wie die unterschiedlichen Akkorde und Klangmuster; Authentizität ist ganz einfach nicht mehr vorgesehen, wird vielmehr als störend im Geschäftsprozess betrachtet. Windmaschinen, künstlicher Nebel und klebrige Verse sollen das so Fehlende ersetzen.

Daher der große Erfolg von Salvador Sobral, der sich so ganz anders als Mensch auf der Bühne zu erkennen gibt, was in unserem durchgestylten, hochdigitalisierten und ausschließlich an Kommerz und der Quote interessierten Kulturbetrieb zunächst einmal verblüfft. Er weint schon einmal bei seinen Konzerten oder schreit seine Wut über die Regenbogenpresse, die ihm zusetzt, ins Publikum. Er gibt politische Statements. Er ist er auf der Bühne, nem mais nem menos.

Natürlich stellt sich die Frage, ob diese Art des künstlerischen Andersseins durch ein Land wie Portugal ermöglicht, vielleicht sogar begünstigt wird. Da ist einmal der Vorteil des kleinen Landes, das nicht über einen so aufgeblähten und kommerziell bedeutenden Kulturbetrieb verfügt wie andere Länder. Auch wenn Sobral definitiv kein Fadista ist, so konnte er sich einem gewissen Einfluss mit Sicherheit nicht entziehen, und der Fado feiert das Zurschaustellen von Emotion und Persönlichkeit, die Melancholie. Seine Wahl des Jazz als musikalische Heimat war für Sobral ganz offensichtlich die einzig logische Konsequenz seines Musikzugangs und –verständnisses.

Kennen wir einen einzigen Künstler in Deutschland, der einen ähnlichen Weg beschreitet oder beschritten hat? Egal, welche Sparte man bemüht, ich zumindest suche hier vergeblich. Vielmehr scheint es, dass sich deutsche Sänger und Sängerinnen, egal, ob sie nun den Pop, den Rock, den Jazz oder auch die Klassik favorisieren, immer besonders hinter einer Fassade verstecken, hinter gängigen Mustern, die dann auch schnell zum Klischee werden, wie bei Fischer und Co. Lena siegte aufgrund eines raffiniert agierenden Medienapparats mit einem bescheidenen Liedchen unter der Sparte „nettes Mädel von nebenan“. Sie ist von Musikkonzepten und Persönlichkeit meilenweit entfernt und hält es eher mit dem Kommerz. Die nachfolgenden Damen aus der Retorte für den ESC im deutschen Lager sollten das Rezept Lena wiederholen, doch es war eindeutig zu hohl gestrickt und versagte.

Der Fall Sobral wirft zudem ein interessantes Licht auf Castingshows und Nachwuchssuche bzw. –förderung, wobei man letztere hierzulande vergeblich sucht. An sich ein aberwitziges Unterfangen, bewerten doch inkompetente abgehalfterte Schlagersänger junge ambitionierte Sängerinnen und Sänger, die sie in einen verrückten Wettbewerb schicken, der dann auch noch von einem ebenso inkompetenten Publikum entschieden wird. Es ist die garantierte Art und Weise, um Qualität zu verhindern. Als Beweis mag man sich die Gewinner von DSDS der letzten Jahre ansehen, die alle ein dürftiger Abklatsch des sich selbst zum Poptitan erklärten Dieter Bohlen sind, den einzig und allein neben der Sorge um die Quote die Angst umtreibt, es könnte unter den Kandidaten doch echt mal einer sein, der besser ist als er. Persönlichkeit sucht man hier vergeblich, so wie sie sich beim Gewinner des Vorjahrs ganz folgerichtig auf die angeklebte Niete auf der Augenbraue reduzierte. Auf diese Weise werden Talent und Persönlichkeit schon früh ausgefiltert bzw. sind im Plan nicht vorgesehen. So wird Talentsuche erfolgreich verhindert.

Und hat Sobral auch hier genau richtig agiert: nach entmutigenden Erfahrungen in einer Casting-Show hat er sich zunächst in Bars und Restaurants rumgetrieben, um dann zwei Jahre lang Musik zu studieren. So banal und unattraktiv es auch klingen mag: ein solides Musikstudium ist wahrscheinlich eher ein Eintritt in eine Karriere als Musiker als die leeren Versprechungen einer schnellen Karriere, von Ruhm und Glanz durch Castingshows. Möchte denn wirklich einer mit 24 Jahren dastehen wie Pietro Lombardi? Castingshows versprechen vor allem trostlose Perspektiven und den Garaus von Musikalität und Persönlichkeit.

Doch zurück zu Salvador. Er hat mit seiner Art, Musik zu machen und dann natürlich auch mit seiner besonderen Stimme und dem schönen Lied seiner Schwester Europa verblüfft und für sich eingenommen. Er hat uns gezeigt, dass in all der Hoffnungslosigkeit des ausschließlich profitorientierten Kulturbetriebs doch tatsächlich noch Platz für anderes ist, und das macht Mut. Er hat gezeigt, dass Diversity nicht nur die leere Worthülle des ESC sein konnte. Seine Mission umfasst tatsächlich in Zeiten einer zunehmenden Digitalisierung, Vertechnisierung und damit Entmenschlichung der Gesellschaft nicht nur eine Rückkehr zu echter Musik und mehr Inhalt, sondern gleichzeitig zu dem spannenden Projekt des Wagens von mehr Persönlichkeit, Originalität, Offenheit und Ehrlichkeit. Und dieses Projekt fasziniert und begeistert.

Ich glaube nicht, dass er schnell in Vergessenheit geraten wird. In Portugal ist er seit dem Gewinn des Festival da Canção im März DER angesagte Musiker, noch vor dem Gewinn des ESC, mit ausverkauften Konzerten und einem Run auf sein Album. Er verspricht Spannendes für die Zukunft: ein Album mit einer Fusion von Jazz und Bossa Nova ist in Arbeit, ganz besonders vielversprechend scheint jedoch sein Projekt „Alexander Search“ mit Liedern zu Texten von Fernando Pessoa. Dazu verdanken wir ihm, dass nun auch Júlio Resende wahrgenommen wird, ein ebenso feiner wie kreativer Jazzpianist.

Sollte seine physische Kraft ausreichen – was ja durchaus fraglich zu sein scheint –, so dürfte Salvador Sobral am Beginn einer faszinierenden und großartigen Karriere stehen, die er trotz seines Umwegs über den ESC auch verdient hätte, allein aufgrund der Bandbreite seiner außergewöhnlichen Stimme, die eine Vielzahl von Facetten an Sentiment abdeckt: vom verliebt-leidenden gehauchten Verzicht aus „Amor pelos dois“, über die lässige Coolness von „Excuse me“ bis hin zum großartigen und fulminanten leidenschaftlich leidenden „Ay Amor“ (gegen das die Version von Caetano Veloso inzwischen nicht mehr ankommt). In jedem Fall im iberisch-lateinamerikanischen Raum erscheint Sobral momentan als leuchtender Stern der Musikwelt, vielleicht auch darüber hinaus. Dann sollte ihn sein Weg auch nach Deutschland führen, und ich denke, er kann dann auf Helene im Vorprogramm gern verzichten.

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