Da strahlt der Alchimist

Transmutation Kann hochradioaktiver Atommüll in harmlose, gar nützliche Elemente verwandelt werden? Theoretisch ja. Aber richtig billig ist das nicht

Am Morgen des 17. Juli 2010 überschritten die Blöcke B und C des Kernkraftwerks Gundremmingen die Rekord-Stromproduktions-Marke von 500 Milliarden Kilowattstunden. „Die ganze Kraftwerksmannschaft ist stolz“, erklärte der technische Geschäftsführer Helmut Bläsig, und rechnete vor, dass man mit 500 Milliarden Kilowattstunden alle 40 Millionen deutschen Haushalte fast vier Jahre lang umweltfreundlich und zuverlässig versorgen könne. Und: Mit der sicheren Kernenergieproduktion habe seine Anlage fast 500 Millionen Tonnen Kohlendioxid vermieden. Was er nicht sagte: Gundremmingen erzeugt jährlich geschätzte 60 Tonnen radioaktiven, hochgiftigen Mülls. Und der muss irgendwie entsorgt werden.

Seit mehr als 60 Jahren liefern Kernkraftwerke Strom. Zwar geriet die Atomkraft spätestens durch den Unfall in Tschernobyl weltweit in Verruf, inzwischen ist sie aber wieder in Mode. Grund: Viele Politiker glauben, die Ziele zur Reduktion der CO2-Emissionen ohne Kernkraft nicht erreichen zu können. Doch selbst wenn Kraftwerke störungsfrei laufen, produzieren sie allein in Deutschland jährlich 450 Tonnen Müll. Neben schnell zerfallenden Radionukliden wie Iod-131 findet man in der Vielfalt der Spaltprodukte auch eher hartlebige Strahler wie Technetium-99, dessen Halbwertszeit rund 200.000 Jahre beträgt, oder Cäsium-137, das am stärksten strahlende Element im Atommüll. Dazu kommen Brutnuklide wie das hochgiftige Plutonium-239 mit einer Halbwertszeit von 24.000 Jahren, von dem Millionstel Gramm in der Lunge fast sicher Krebs erzeugen. Kurzum: Atommüll ist sehr lange sehr gefährlich. Es sei denn, man entgiftet oder recyclet ihn.

Oder aber man verwandelt den gefährlichen Abfall in ungefährlichen Müll. Forscher hoffen, dieses Ziel künftig durch Transmutation zu erreichen, die kontrollierte Umwandlung eines Elements in ein anderes, jenem Prozess, von dem einst die Alchimisten vergeblich träumten. Doch heute liegen die Dinge anders: Die moderne Physik erlaubt durchaus eine gezielte Veränderung von Atomkernen. Langlebiges Plutonium-239 etwa lässt sich durch Transmutation in das rasch zerfallende Cäsium-134 und das stabile Ruthenium-104 spalten.

Einfach losfeuern geht nicht

Um eine Transmutation einzuleiten werden die Stoffe meist mit Neutronen beschossen. Die Kerne fangen die Teilchen ein, werden instabil und zerfallen zu (meist weniger problematischen) Elementen. Eine Alternative ist der Beschuss mit energiereichen Protonen oder mit energiereicher elektromagnetischer Strahlung, die einzelne Neutronen aus dem Kern löst und auf diese Weise den Zerfall herbeiführt. Im Unterschied zur Kernspaltung verlaufen diese Transmutationen nicht als Kettenreaktion, und tatsächlich ließe sich durch Transmutation die Halbwertszeit einiger Radionuklide von Hunderttausenden Jahren auf weniger als 500 Jahre reduzieren.

Doch so schön das klingt: Das Verfahren ist bisher noch Gegenstand der Forschung und birgt eine Reihe von neuen praktischen Problemen. Zum einen benötigt die Transmutation teure Teilchenbeschleuniger für den gezielten Beschuss der Abfälle. Zum anderen kann man nicht einfach auf den Müll losfeuern, sondern muss ihn in seine strahlenden Komponenten zerlegen. Nur wie? Erforscht werden beschleunigerbetriebene Systeme (ADS) derzeit zum Beispiel am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), am Forschungszentrum Dresden-Rossendorf und an der RWTH Aachen. In Belgien beteiligt sich das KIT an der Entwicklung des Forschungsreaktors MYRRHA. Er soll rund 960 Millionen Euro kosten und ab 2023 mit voller Leistung arbeiten. Erstes Ziel ist hier aber noch nicht die Transmutation selbst, sondern aus dem Atommüll erst einmal seltene, aber hochradioaktive Aktinide wie Neptunium, Americium und Curium zu isolieren und für die Transmutation aufzubereiten. Im Labor ist dies schon gelungen, von einer Massenroutine ist man weit entfernt.

Forscher um John Kettler vom Institut für Nuklearen Brennstoffkreislauf an der RWTH Aachen gehen dennoch der Frage nach, wie sich solche Anlagen in Deutschland integrieren ließen. Kettler sucht eine Lösung, die sich mit dem Atomausstieg deckt. Eine technische wie politische Herausforderung: Transmutation ist ein zyklischer Prozess. Man braucht ein Jahr, um 20 Prozent der radioaktiven Stoffe umzuwandeln, dann werden wieder 20 Prozent aus den verbliebenen 80 umgewandelt und so weiter. Und die Erforschung, die Errichtung und der Betrieb der Anlagen kosten sehr viel Geld. „Man muss sich fragen, ob man solche Anlagen wirtschaftlich betreiben will oder zu dem Zweck, für den sie da sind – zur Reduzierung der radioaktiven Belastung“, sagt Kettler.

Erbrütetes Plutonium

Bislang gibt die Wirtschaftlichkeit den Ausschlag, und insbesondere russische Energieproduzenten werben deshalb für Atomrecycling und schnelle Brüter. Tatsächlich gibt es für diesen Reaktortyp mit wiederaufgearbeiteten Plutonium-Brennelementen riesige Plutonium-Bestände, die ohnehin zu entsorgen wären. Die Brüter haben ein weiteres Plus: Leichtwasserreaktoren spalten von den natürlichen Uran-Isotopen nur U-235. Schnelle Brüter nutzen auch das häufigere Isotop U 238, bisher Teil des Atommülls. So entsteht weniger Müll. Die Nachteile: Brutreaktoren tragen diesen Namen, weil sie zusätzliches Plutonium erbrüten, und dieses Plutonium ist theoretisch kernwaffenfähig. Das macht die Brüter schon im Störfall besonders gefährlich. Fällt die Kühlung aus, können atomare Explosionen die Folge sein. Der weltweit größte Brüter BN-600 steht übrigens nur 50 Kilometer von der Millionenstadt Jekaterinburg entfernt.

Aussteigen und bis zum endgültigen Ausstieg die Müllbestände zugleich durch Transmutation entschärfen wäre eine Alternative. Zwar kritisieren Umweltverbände wie Greenpeace, dass Transmutationsanlagen im Grunde neue Reaktoren sind – und mithin ähnlich anfällig für Störungen. Die Wissenschaftler halten dagegen, dass in ADS-Anlagen keine selbsterhaltende Kettenreaktionen ablaufen. Außerdem entsteht im Rahmen der Transmutation Wärme, die als Strom genutzt werden kann. Der durch den Umwandlungsprozess anfallende, neue atomare Abfälle müsste allerdings erneut aufbereitet werden. Und das System selbst benötigt eine Menge Energie. Wissenschaftlich sinnvoll wären daher zentral gelegene Anlagen, doch dann müsste ständig Atommüll durch die Republik gefahren werden. Würde man sie nahe an Kernkraftwerken errichten, bräuchte man recht viele Anlagen.

Doch nimmt man die Kosten dieser Technologie in Kauf, wenn sie das Entsorgungsproblem nicht löst, sondern nur mindert? Die bereits in Glas eingeschmolzenen radioaktiven Abfälle müssen trotzdem gelagert werden, ihre Rückführung für eine Transmutation wäre zu aufwändig. Eine Weile hoffte man, ihn auf Planeten oder in die Sonne schießen zu können, eine elegante Lösung, allerdings würde eine Rakete ihre radioaktive Fracht womöglich über der Erde verteilen, falls sie verunglückt. Zudem ist die Verschmutzung fremder Planeten verboten. Auch ein Endlager im Eis der Antarktis wird diskutiert, doch niemand weiß, wie sich die Wärmestrahlung des Mülls ökologisch auswirkt. Die Lagerung des Mülls unter der Erde bleibt daher die naheliegendste Entsorgungsmethode. Nur das nötige Endlager gibt es nicht. In Finnland wird das erste gebaut. In zehn Jahren soll der erste Atommüll dort verwahrt werden.

Boris Hänßler schreibt über Physik. Er glaubt auch nach dieser Recherche nicht an eine simple Lösung für den Energiehunger der Welt

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