Als Jay Garrick eines Tages im Labor mit Wasser experimentiert – es ist kein normales Wasser, sondern schweres, das besondere Wasserstoffatome enthält –, schläft er ein und inhaliert die Dämpfe der exotischen Flüssigkeit. Ein Unfall mit interessanten Folgen: Der Student wacht auf und besitzt auf einmal Superkräfte. Fortan wird er als The Flash mit übermenschlichem Reflexionsvermögen viele Schurken bekämpfen. Und auch Spiderman kommt auf dem Weg der experimentellen Panne in die Welt: Er wird als junger Mann in einem Forschungsinstitut von einer radioaktiven Spinne gebissen.
Je gefährlicher, desto übersinnlicher – aber immer aufregend? In der Realität sind Laborunfälle selten amüsant: Am 13. April 2011 arbeitete die 22-jährige Studentin Michele Dufault als letzte im Chemie-Labor der Yale Universität. Ihr Haar verfing sich in einer Drehmaschine, offenbar wurde sie dabei regelrecht stranguliert. Erst am nächsten Morgen fanden Kommilitonen ihre Leiche. An der Universität von Kalifornien starb 2008 die 23-jährige Sheharbano Sangji: Sie hatte mit einer Spritze Butyl-Lithium aufgezogen, aber der Kolben rutschte aus der Spritze heraus. Die Chemikalie konnte sich gerade noch auf der Kleidung verteilen, bevor sie sich in einer heftigen Reaktion mit dem Luftsauerstoff entzündete. Sangji starb 18 Tage später an ihren Verbrennungen. Sie hatte nicht die empfohlene Schutzkleidung getragen.
Ob in der Chemie, Biologie, Medizin oder Physik, auf allen Feldern naturwissenschaftlichen Arbeitens sind insbesondere – aber auch nicht nur – die jungen Beteiligten erheblichen Risiken ausgesetzt, ob durch Gefahrenstoffe, Mikroorganismen, Geräte oder Strahlung. Und während die Öffentlichkeit meist die möglichen Gefahren fürchtet, welche als Beiwerk neuer Technologien aus den Laboratorien herauskommen, ist das viel zitierte Restrisiko in den Versuchsräumen der Forschung meist deutlich größer.
In deutschen Uni-Labors geschehen dabei zwar nur selten schwere Unfälle – was aber weniger an den hohen Sicherheitsstandards liegt als an einer Portion Glück. Und auch daran, dass man es gar nicht so genau weiß: Allein im Bereich Chemie werden jährlich etwa 1.000 meldepflichtige Arbeitsunfälle registriert, sagt Kurt Scherer von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Wie viele davon an Universitäten stattfinden, weiß er nicht. Thomas Lehmann vom Fachbereich Biologie, Chemie und Pharmazie an der Freien Universität Berlin hat deshalb eine Statistik nur für sein Institut erstellt: Von 2007 bis 2009 gab es hier 16 Unfälle – zum Glück alle ohne bleibende Schäden. Thorsten Wolff, Leiter der Gruppe Gefahrstoffmanagement der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, schätzt, dass es etwa 150 Unfälle in deutschen Hochschullabors jährlich gibt, durch die die Betroffenen mindestens drei Tage lang arbeitsunfähig sind.
In den USA ist die Zahl der Unfälle an Universitäten laut Schätzungen des Laboratory Safety Institute bis zu 1.000 Mal höher als in der Industrie. „Meist ist die akademische Freiheit wichtiger als Sicherheit“, erklärte Jim Kaufman, Präsident des Instituts, in der Fachzeitschrift Nature. Die vielen Unfälle haben das Chemical Safety and Hazard Investigation Board (CSB) 2010 erstmals dazu gebracht, auch im Universitätsumfeld zu ermitteln – bisher untersuchte man vor allem Industrieunfälle. Dass Universitäten tatsächlich stärker betroffen sind als industrielle Labors, hat seinen Grund: Studenten forschen drauflos, probieren sich aus. Industrielaboranten arbeiten dagegen meist analytisch und mit sehr viel Routine.
Fahren ohne Führerschein
Ein wichtiger Grund für Unfälle sind demnach Unkenntnis und mangelnde Erfahrung. „Wir haben früher im Studium sehr viel Laborerfahrung gesammelt, die es in den heutigen Studienplänen nicht mehr gibt“, sagt Thomas Lehmann und vergleicht: „Stellen Sie sich vor, jemand fährt mit Ihnen dreimal um den Block. Er überreicht Ihnen die Urkunde und sagt: Jetzt sind Sie zuständig, dem nächsten das Fahren beizubringen. Das ist universitäre Sicherheitsausbildung“.
Dabei sind die Gesetze und Bestimmungen gut. Die Professoren haben nur offenbar keinen Nerv, sich damit immer wieder vertraut zu machen, weil sich die Vorgaben ständig ändern – mit jedem neuen Virusausbruch und Unfall muss der Gesetzgeber reagieren. Das führt zu Frust und Verlegenheitslösungen: Thomas Lehmann hat immer wieder beobachtet, dass Dozenten Bestimmungen zur Laborsicherheit einfach an die Laborwand hängen – das war es dann mit der Einführung. Andere fordern ihre Studierenden in Praktika auf, die Gefahrstoffkennzeichnung auswendig zu lernen – die können sie tatsächlich rauf- und runterbeten, doch für die Laborpraxis bringt das nichts. „Wenn Sie bestimmte Flaschen öffnen, haben Sie sofort Hustenreiz in der Kehle – so etwas können Studierende nicht auswendig lernen, das ist reine Erfahrung“, sagt Lehmann. Also berichtet er lieber aus seiner Laborpraxis und von vergangenen Unfällen als nur über die Verordnungen.
Beispiele gibt es auch in der Geschichte reichlich: Der Chemiker Carl Scheele, Entdecker zahlreicher Elemente wie Sauerstoff und Stickstoff, starb 1786 vermutlich an einer Blei- und Quecksilbervergiftung. Marie Curie, Entdeckerin der Radioaktivität und der Elemente Polonium und Radium, erlag einer aplastischen Anämie, die vermutlich eine Folge der langjährigen Strahlenbelastung im Labor war. 1978 starb Janet Parker, eine Medizinfotografin, nachdem ein Pockenvirus aus dem Labor der Universität Birmingham entwichen war. Im August 1996 tropfte der Chemieprofessorin Karen E. Wetterhahn Dimethylquecksilber auf ihre Handschuhe. Unbemerkt drang das Gift durch den Latex in die Haut, erst knapp ein halbes Jahr nach dem Unfall bekam sie neurologische Ausfallerscheinungen und ging zum Arzt. Sie starb wenige Monate später, etwa zur selben Zeit wie die Primatenforscherin Elizabeth Griffin, die sich mit dem gefährlichen Affenherpesvirus angesteckt hatte, als sie die Tiere des Forschungszentrums wieder in den Käfig sperrte. Und 2001 verbrannte der polnische Chemiker Michal Wilgocki in Warschau vermutlich bei dem Versuch, instabile Perchlorate zu trocknen, die auch als Oxidationsmittel in Feuerwerkskörpern eingesetzt werden. Sein Labor ging in Flammen auf.
Viele weitere Fälle finden ihren Weg aber weder in die Medien noch in die Statistiken. Thomas Lehmann hat versucht, überregionale Unfallbilanzen zu erstellen – doch die meisten Universitäten halten sich zurück. „Viele haben Angst, dass Aufsichtsbeamten in ihren Labors erscheinen und erhebliche Mängel aufdecken“, sagt Lehmann. Dabei seien viele Dozenten sogar dankbar, wenn die Universitäten mehr in Sicherheitsbeauftragte investieren. Lehmann jedenfalls stellt immer wieder fest, dass Professoren sehr interessiert an seiner Unterstützung sind – sei es für die Aufklärung über Rechtsfragen oder für die Unterweisung von Studierenden. Doch es fehlt am Geld. Thorsten Wolff schlägt deshalb vor, über die Akkreditierung von Studiengängen die Universitäten zu mehr Sicherheit zu bewegen. „Man könnte einen Studiengang erst genehmigen, wenn die Fakultät darauf Wert legt, ihre Studierenden auch in puncto Sicherheit richtig auszubilden“.
Auch interessante Folgen
Die technischen Standards der Labors sind dabei akzeptabel, sagt Stephan Herbst von MLT Medizin- und Labortechnik. Das Unternehmen berät Hochschulen und Industrie in Sicherheitstechnik und -ausstattung. Allerdings gibt es Unterschiede: Die Anforderungen in der Biologie und Radiochemie seien höher als in der Chemie. „Im Planungsstatus nimmt man ein chemisches Labor als Grundlage und plant dann die besonderen biologischen oder radiologischen Anforderungen hinzu.“ Auch er sieht die Industrie hier weiter als die Universitäten. „Aber es ist hier wie in jedem Beruf, dass sich Berufsanfänger mit diversen Regelungen und Gesetzmäßigkeiten erst auseinandersetzen müssen. Dies geschieht in der Industrie sehr häufig über Erstschulungsmaßnahmen.“ Sehr oft stelle man Mängel ja erst nach Schadenseintritt fest, wie das, um mal ein extremes Beispiel zu bemühen, nach dem GAU in Fukushima geschieht.
Manchmal haben Laborunfälle aber auch im echten Leben interessante Konsequenzen: Als der Schweizer Forscher Albert Hofmann 1938 mit dem Getreidepilz Mutterkorn experimentierte, um Stimulanzien für den Kreislauf zu entwickeln, synthetisierte er ein Amid-Derivat der Lysergsäure. In Tierversuchen zeigte der Stoff zwar nicht die gewünschten Eigenschaften. Doch atmete Hofmann ihn wohl aus Versehen ein. Er fühlte sich komisch und ging nach Hause, wo er sich dann mehr als zwei Stunden in farbigen Visionen suhlte. Der Stoff hieß LSD – mit ihm gewann Hofmann der so genannten Inhalationsintoxikation eine völlig neue Seite ab.
Boris Hänßler ist Komparatist und befasst sich im Freitag bevorzugt mit kosmischen Fragen
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