Auf dem Tisch müssen sie sterben, lautet ein altes Zockersprichwort. Und wer seine Karten auf den Tisch legt, ist ehrlich, aber verwundbar. Niemand ist gestorben am Rednertisch, aber verloren haben sie doch. Wenngleich die serbischen Referentinnen und Referenten, von denen hier die Rede ist, ihr Bestes gegeben haben. Da es ihnen aber umgehend wieder genommen wurde, blieb ihnen nichts außer der Erkenntnis, dass eine noch so eindringliche, sorgfältige und kluge Rede nichts bewirken kann, wenn es kein Gegenüber gibt, das zu einem nachvollziehenden, verständigen Zuhören bereit ist. Zwei lange Tage sprachen die aus Belgrad, Novi Sad und Wien angereisten serbisch-jugoslawischen Schriftsteller, JournalistInnen und WissenschaftlerInnen Ende November über die Voraussetzungen des nun aller Welt bekannten serbischen Nationalismus. Differenzierte Analysen über das innerserbische Verhältnis von Staat, zivilgesellschaftlichen Institutionen und der davon fast gänzlich entbundenen Gesellschaft standen neben Vorträgen über das deutsch-serbische Verhältnis, das stark durch die historisch falsche Parallelisierung vom nationalsozialistischen Deutschland und dem "Schurkenstaat des Milosevic" geprägt ist, und Expertisen über die Konstitution nationaler Identität durch die Propagierung und Repetition legendär-heroischer Mythen.
Der Mythos, so der Literatur- und Sprachwissenschaftler Ivan Colovic, diene der Vereinigung der Einzelnen in einem monolithischen Volkskörper. Dieser Körper werde fester und einheitlicher, je größer die Gefahr einer Verwundung erscheint. Deshalb würden die bosnischen Serben oder die herzegowinischen Kroaten als ideale Verkörperungen des serbischen beziehungsweise kroatischen Volksgeistes ausersehen. Gerade zur Zeit hat nicht nur der Südosten Europas mit der Revitalisierung nationalistischer Mythen und Kulte zu kämpfen. Über die bekannte These hinaus, dass der Zusammenschluss unter dem Zeichen des nationalen Mythos die systematische Gewalt ausübung gegenüber anderen zur "heiligen Pflicht" werden läßt, gab Colovic noch ein weiteres zu verstehen. Dass nämlich diese Methode zum Schluss darin gipfele, dass das eigene System der Ausrottung allen Übels den anderen Nationen als idealer Lösungsweg angepriesen wird. Es wäre einen Gedanken wert, ob es sich mit dem Projekt der globalen Westeuropäisierung nicht ähnlich verhält.
Die Historikerin Dubravka Stojanovic beeindruckte durch die These, dass es in Jugoslawien nicht etwa an demokratisch strukturierten Institutionen fehle. Noch bis vor einem Jahr waren Pressefreiheit und Demonstrationsrecht selbstverständliche Gesellschaftsgüter. Schon jetzt gibt es wieder regimekritische Großdemonstrationen, an denen sich eine breite Schicht der Bevölkerung beteiligt und die oppositionelle Presse ist dabei, sich neu zu stabilisieren. Entscheidend sei vielmehr, dass die politische Elite diese Freiheiten gelassen tolerieren könne. Denn "der Staat weiß, dass diese Bewegungen gleichzeitig ein nützliches Ventil für die Unzufriedenheit sind". Indes ist diese Formel keineswegs nur für die sozialpolitische Situation in Serbien gültig. Sie taugt auch für die oft idealisierte deutsche Demokratie.
Die für westliche Medienöffentlichkeiten typische Erfahrung unheimlicher Wirkungslosigkeit machten auch die Vortragenden. Sie hätten ebenso gut postfaschistische Proklamationen brüllen können, statt sich mit großer intellektueller Redlichkeit der jüngsten Vergangenheit und möglichen Zukunft ihres Landes zu stellen. Die Reaktion der geladenen deutschen Politprominenz wäre um keinen Deut anders gewesen. An vorderster Front profilierten sich der altgediente Christkonservative Christian Schwarz-Schilling und der nach neuesten ideologischen Richtlinien der sentimentalisierten Rede auftretende Christian Clages. Obgleich beide offiziell eine Art politischer Gegnerschaft zu repräsentieren haben, hatten sie am Nachmittag dieses zweiten Veranstaltungstages nur Dankesworte aneinander zu richten. Der alte Christian reüssierte mit der notorischen Phrase über das historische Zwillingspaar Hitler/MilosÂevic´. In der Pose des weisen Pater familias rief er zu Geduld auf mit dem ethisch-moralisch unterentwickelten Hinterland. Schließlich hätten doch die Serben "noch nie eine Demokratie gehabt. Die wissen doch gar nicht, was das ist". Und unvorstellbar gönnerhaft: "Wir mussten das doch auch erst lernen." Deshalb sei dieses politische Armenhaus so dringend angewiesen auf die vorsichtige und vorausschauende Lenkung des westdemokratischen Kapitals. So lernen wir, dass eine Bombe auch ein Mittel der Erziehung sein kann. In allen Vorträgen der deutschen Redner strotzte es vor pädagogischen Begriffshülsen. Was die Handhabung der pädagogisierenden und privatisierten Rede anbelangt, muss der junge Christian als glänzender Könner ausgewiesen werden. Fast glaubte man eine echte Blässe zu sehen, als er wiederholt und händeringend bekannte, dass alles so furchtbar kompliziert sei und er trotz reichster Erfahrung immer weniger verstehe, aber doch auf eine heimliche Weise klüger geworden sei. Man müsse lernen, alle müssen immer und noch mehr lernen. Wir verstehen jetzt, dass der Krieg eine wichtige Lektion ist und für Klarheit sorgt, dort, wo nur noch balkanisches Chaos herrscht.
Die Denunziation der Serben als wildgewordener Volksstamm, als ein, entwicklungspsychologisch betrachtet, zurückgebliebener Adoleszent entfaltete sich ganz ohne Scheu und Bedenken. Es sollte wohl auch um die gütige Belehrung des Publikums gehen, in dem man proserbische Betonköpfe witterte. Wer es hier wagte, durch widerständige Provokation (Jugoslawien diene als Experimentierfeld zur Begründung eines europäischen, sozusagen Vierten Reiches) oder durch sachliche Nachfrage (was denn, neben den bekannten humanitären Anliegen, die militärstrategischen und wirtschaftlichen Interessen der kriegsführenden Parteien gewesen seien) aufzufallen wagte, wurde entweder als ewig gestriger Weltverschwörungsextremist beschimpft oder darüber in Kenntnis gesetzt, dass ausschließlich rein menschliche Beweggründe zum Eingreifen gezwungen hätten.
Diese Politprofis können wohl nicht anders, als mit gezinkten Karten zu spielen und diese als Joker in die Runde zu werfen. Wirft man ihnen Betrug vor, zeigen sie einfach auf die stattliche Summe ihrer Erfolge und nennen das Ganze Aufklärung durch Rechtbehalten.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.