Schnelle Gleichungen

Juden in Schul- und Jugendbüchern Subtil versteckte Stereotypen, aber auch offene Antisemitismen sind an deutschen Schulen Alltag - ein Beispiel aus Hamburg

Seit Monaten läuft die Phrasendreschmaschine: Zuletzt versicherte das Büro der Schulsenatorin Ute Pape, "dass Hamburg in verantwortungsvoller und engagierter Weise jeder Form von Antisemitismus und Rassismus entgegentritt". Doch seit einem Jahr verweigert die Senatorin eine politische Stellungnahme, warum an Hamburger Schulen Geschichts- und Jugendbücher mit antisemitischen und rassistischen Stereotypen im Umlauf sind.

Seit 1985 weist die deutsch-israelische Schulbuchkommission des Georg-Eckert-Instituts in Braunschweig regelmäßig in Empfehlungen auf die Missstände hin. Für viele Geschichtsbücher, die bundesweit im Umlauf sind, gilt: Im besten Fall "erscheint die Geschichte der Juden seit dem Mittelalter vornehmlich als eine Geschichte von Verfolgung und Niederlage ohne Gegenwehr", stellt Falk Pingel, Mitglied der Kommission fest.

Einige Bundesländer haben auf die Kritik reagiert. So zog das bayerische Kultusministerium im vergangenen Jahr ein Buch zurück, nachdem Proteste laut geworden waren. Doch in keinem anderen Land verweigern sich politisch Verantwortliche so sehr wie in Hamburg. Die Schulbuchverlage sind mittlerweile das kleinere Problem. Diesterweg, Westermann, auch der Cornelsen-Verlag gestehen Fehler ein und sind zur vollständigen Überarbeitung der Bücher bereit.

Der Fall: Die Eltern Liane und Jan Hansen (*) baten Schulsenatorin Pape, aber auch den Bürgermeister Ortwin Runde, beide SPD, um Stellungnahme, nachdem sie sich das Schulbuch ihres Sohnes die Geschichtliche Weltkunde, Band 1 vom Diesterweg Verlag angesehen hatten. In diesem alten Schinken - seit 1975 von der Hamburger Schulbehörde empfohlen - fanden die Hansens alle Abstufungen: Offenen Antisemitismus, subtil inszenierte Stereotypen, im günstigsten Fall das Verschweigen jüdischer Existenz. Da erscheinen Juden schon im Mittelalter als Sonderlinge, die in Gettos wohnen, spitze, gelbe Hüte tragen und vor allem Zins raffen (siehe Kasten).

Für Nathan Kalmanowicz, Kultusdezernent im Präsidium des Zentralrates der Juden in Deutschland hat das wenig mit historischen Erkenntnissen zu tun. "Das sind die alten Stereotypen." Es werde eben nicht erklärt, was beispielsweise der "spitze Judenhut und die gelbe Kleidung" bedeutet haben, dass sie die Vorläufer für Hitlers "gelben Davidstern" waren. Im 11. und 12. Jahrhundert hat der Klerus den Juden diese Verkleidung oktroyiert, "einzig zum Zweck, sie zu demütigen, damit man sie schon von Ferne erkennt und belächelt", erklärt Kalmanowicz. Die Behauptung, die Juden seien vertrieben worden und hätten daher auswandern müssen, nennt er "schlicht eine Frechheit, weil die vielen Morde verschwiegen werden."

"Die Juden in den Städten führten ein Eigenleben, ihr Glaube trennte sie von den Christen. Andererseits standen sie seit den Karolingern unter dem besonderen Schutz der deutschen Könige. Da sie im Gegensatz zu den Christen für ausgeliehenes Geld Zins nehmen durften (nicht selten bis zu 50%), wurden viele reich, und das steigerte die Abneigung der Christen, manchmal den Haß, während die Könige, auf Geldanleihen bedacht, den Juden Zugeständnisse machten. Die "kaiserlichen Kammerknechte", wie sie auch hießen, erhielten z.B. Zoll- und Handelsfreiheiten, in Speyer sogar das Recht der eigenen Gerichtsbarkeit. Die Juden blieben ungeachtet ihres Reichtums gewöhnlich aus der städtischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Sie durften keine Christen heiraten und keine städtischen Grundstücke kaufen und mußten in eigenen Stadtvierteln, in Ghettos, wohnen. Hier stand ihre Kirche, die Synagoge, hier predigte der Rabbiner seinen Glaubensgenossen, hier lag auch der Judenfriedhof. Der spitze Judenhut und gelbe Kleidung sonderten die Juden auch äußerlich vom christlichen Bürgertum ab. In zahlreichen deutschen Ländern vertrieben die Landesherren im Spätmittelalter die Juden, die größtenteils nach Polen auswanderten."

Aus dem Geschichtsbuch der Klassen 5 und 6 an Hamburger Schulen (Geschichtliche Weltkunde, Band 1, Diesterweg Verlag 1975)

Pädagogisch wertvoll soll auch Geschichte und Geschehen für die Sekundarstufe I sein. Es hat ein Kapitel "Juden - eine ungeliebte Minderheit". Die Variation hier: "... ihre Rolle als Geldverleiher erregten das Misstrauen und den Neid der christlichen Bevölkerung. In Zeiten der Not diente die jüdische Minderheit immer wieder als ›Sündenbock‹ (...) Man sagte ihr die schrecklichsten Verbrechen nach, um anschließend über sie herzufallen. In den Jahrzehnten nach der Pest von 1348 wurden die Juden entweder in Ghettos, abgeschlossenen Bezirken, isoliert oder ganz aus deutschen Städten - wie auch aus anderen Ländern Europas - vertrieben. Sie siedelten sich daraufhin in Osteuropa an, bewahrten dort aber ihren deutschen Dialekt, das Jiddische ..." Sollte eine Schülerin nach diesem rasanten Galopp durch die Geschichte Luft holen wollen, bleibt ihr die Assoziation Pest-Juden übrig. Und dass das Jiddische ein deutscher Dialekt sei, mit dieser falschen Information muss sie auch leben.

Die Verknüpfung von Juden und Pest ist seit Goebbels und "Jud Süß" berüchtigt, aber auch in diesem Buch "wird nicht aufgeklärt, warum Juden weniger von der Pest betroffen und deshalb dem Hass ausgesetzt waren", sagt Kalmanowicz: Die religiösen Sauberkeitsriten wie das Bad in der Mikwe, regelmäßiges Händewaschen, strenge Hygiene, machten Juden weniger anfällig für die Pest.

Nichts erfahren Kinder über die Hellenisierungspolitik im Altertum, die mit der Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung begründet wurde. Damals entstand die Metapher von Juden als Mörder Christi. Nichts lernen Kinder im Abschnitt "Frühe Neuzeit" über Martin Luther und sein Pamphlet "Von den Juden und ihren Lügen". Sie erfahren nichts über den Antisemitismus im 19. und die Ursachen des Vernichtungsantisemitismus im 20. Jahrhundert. "Antisemitismus führte im Zweiten Weltkrieg (1939-1945) auf Befehl der damaligen deutschen nationalsozialistischen Regierung zum Mord an mehreren Millionen Menschen jüdischer Abstammung", heißt es in Geschichte und Geschehen lapidar.

Dann ließ die Hamburger Senatorin Pape einen Antwortbrief an die Eltern Hansen schicken: "Für das Amt für Schule hat die Aufklärung über Ursachen und Auswirkungen des Antisemitismus einen hohen Stellenwert", heißt es phrasenhaft. Doch der Brief gewährt auch Einblick in eine typische Assoziationskette der Schulbehörde: So lässt man die Eltern wissen, dass in den Klassen 9 und 10 das Buch "Erzählt es Euren Kindern. Der Holocaust in Europa" kostenlos verteilt werde.

Juden gleich Holocaust, diese Assoziation, ist im Klassenraum Praxis. Eine Verknappung, die auch Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden und häufiger Gast in Schulen, kritisiert: "Jüdinnen und Juden kommen fast ausschließlich als Opfer vor, nicht als Menschen, die engagierte Beiträge zur Geschichte, Wissenschaft und Kultur geleistet haben."

Wohin die Verbreitung von Halbwahrheiten und Stereotypen führen kann, haben die Hansens bereits erfahren müssen. Ihr zwölfjähriger Sohn war aufgeregt nach Hause gekommen. Die Lehrerin hatte die Klasse gefragt, "wer hat Jesus Christus umgebracht?" und ein Mädchen für die Antwort "die Juden" gelobt. Der Junge hatte dann den Unterschied zwischen religiösen Auffassungen und historischen Tatsachen erklärt. Die Lehrerin sah ihren Fehler zwar ein, doch die dunklen Kräfte waren los: "Ihr habt Christus umgebracht" und "Judensau" bekam er von anderen Kindern zu hören. "Es war wie eine kalte Dusche. Ich hatte immer Angst gehabt, dass meine Kinder eines Tages damit konfrontiert werden", erinnert sich Liane Hansen.

Die Geschichtslehrerin Anna Wolff (*) kann Ähnliches berichten. Vor wenigen Wochen kam ihr zehnjähriger Sohn wütend aus der Schule. Der Unterricht hatte die drei Religionen Islam, Christentum und Judentum zum Thema, und der Junge hatte einen Vortrag über die religiösen Grundlagen des Judentums gehalten und jüdische Rituale und Feiertage erklärt. Am Ende forderten ihn seine zwei Lehrerinnen auf, auch noch etwas über Gettos und den Holocaust zu berichten. Der Junge erklärte, diese Themen hätten nichts mit der Religion zu tun, sondern seien politische und geschichtliche Ereignisse. Es kam zum Streit. Als dann der Kleine etwas über Gettos und den Holocaust erzählte und dabei erwähnte, sein Urgroßvater sei auf dem Weg nach Auschwitz erschlagen worden, ließen ihn die Lehrerinnen wissen, das gehöre nicht zum Thema. Anna Wolff sieht ihren Sohn bloßgestellt, doch sie kennt diese Ignoranz im Lehrerzimmer aus ihrem Alltag: "Statt sich mit der Geschichte, auch mit der der eigenen Familien auseinander zu setzen, werden rhetorische Versatzstücke über ›Rassismus und Antisemitismus‹ abgespult."

Ihre Erfahrungen decken sich mit denen des Schulbuchforschers Falk Pingl, der beobachtet hat, "dass Lehrer meinten, die Juden hätten durch ihre anderen Riten und Alltagsbräuche die Distanzierung von der Mehrheitsgesellschaft selbst eingeleitet. Laut einem unveröffentlichten Bericht der Hamburger Schulbehörde wird Geschichte an Haupt- und Realschulen bis zu 70 Prozent von fachfremden Lehrern erteilt. Zudem gebe es keinerlei verbindliche, systematische Fortbildung.

Doch nicht allein das Fach Geschichte ist vom undifferenzierten Gebrauch von Stereotypen betroffen - auch das Fach Deutsch. Dort sind ebenfalls mit Duldung der Schulbehörde Jugendbücher im Umlauf, die vorgeben, die Zeit des Nationalsozialismus zu behandeln, aber voller unterschwelliger Antisemitismen sind, wie die israelische Kunsthistorikerin Zohar Shavit über insgesamt 345 deutsche Jugendbücher festgestellt hat (siehe Interview).

Seit mehr als 30 Jahren gehört dazu der Kinderroman Damals war es Friedrich von Hans Peter Richter, ein Bestseller, der oft als "Juwel der deutschen Jugendbuchliteratur" gefeiert wird. Doch Damals war es Friedrich hält ein feinmaschiges Netz von Antisemitismen zusammen. Der jüdische Junge Friedrich Schneider wächst mit dem Ich-Erzähler im selben Mietshaus auf. Die Schneiders sind nette, großzügige Leute. Sie laden die deutsche Familie anlässlich der Einschulung der beiden Jungen zur Kirmes ein. Weil die jüdische Familie alles bezahlt, fühlt sich die deutsche in ihrem Stolz verletzt. Um den zu wahren, gibt die deutsche Familie schließlich ihre letzten Pfennige für ein Gruppenfoto und für Süßigkeiten aus. Die Folge: Die christliche Familie kann sich später kein Mittagessen leisten. Schuld ist also die jüdische Familie.

Den Lehrer lässt Autor Richter "Verständnis" üben: "Bedenkt eines: Juden sind Menschen, Menschen wie wir!", sagt er, als er der Klasse den Verweis Friedrichs von der Schule erklären will: "Eines aber müssen selbst die ärgsten Judenfeinde zugeben: Die Juden sind tüchtig! Nur Tüchtige können zweitausend Jahre Verfolgung durchstehen." Eine Behauptung, die der Lehrer im Lauf der Geschichte mehrfach inszeniert. "Eine solche Überlegenheit deutet an, dass die Deutschen, die sich in einer schwächeren Position befinden, gegen die Juden kämpfen müssen, um wenigstens gleichzuziehen", erläutert Zohar Shavit.

Nach wie vor findet keine echte Aufarbeitung statt, stattdessen bekommen die Schüler Nachhilfe in den Verdrängungsdiskursen, mit denen schon ihre Eltern und Großeltern aufgewachsen sind. Dabei wäre die Situation in Hamburg im Moment äußerst günstig. Die Schulbehörde überarbeitet die Bildungs- und Rahmenpläne. Doch die stärkere Berücksichtigung jüdisch-christlicher Geschichte für alle Klassenstufen ist nicht geplant. Und auch für neue Schulbücher ist kein Geld da. Hamburgs Bürgermeister Ortwin Runde schwört noch immer lieber auf Formeln und ruft ohne Unterlass den "Aufstand der Anständigen gegen Antisemitismus und Rassismus" aus.

(*) Die Namen der Familien wurden geändert

Brigitta Huhnke ist derzeit Gastprofessorin an der Universität Klagenfurt und forscht über Erinnerungskultur nach 1945 im internationalen Vergleich.

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