Mehr als 33,6 Millionen Menschen sind weltweit HIV-positiv, davon 23,3 allein in Afrika. Alle fünf Sekunden wird ein Mensch vom Virus infiziert. 1999 ist in Osteuropa die Zahl der HIV-Infektionen um ein Drittel gestiegen. Hinter diesen Statistiken der Weltgesundheitsorganisation versteckt sich eine Konstante: Zunehmend werden Frauen zu Opfern der Infektionskrankheit. Im Jahr 2000 soll ihr Prozentsatz weltweit 50 Prozent übersteigen. 1992 lag er noch bei zwölf Prozent. In Südafrika sind bereits 55 Prozent aller AIDS-Kranken Frauen. Die gleiche Tendenz gilt auch für die jungen Osteuropäerinnen, die oft gleichzeitig Opfer von Armut und Prostitution werden.
Allmählich beginnen die Betroffenen sich zu organisieren. Seit drei Jahren gibt es das Netz der "International Community of Women living with HIV/AIDS" (ICW), das vom AIDS-Programm der Vereinten Nationen unterstützt wird. Eine der 15 ICW-Vertreterinnen ist Suzanne Desbiens aus Montreal, Quebec.
Rote Lippen, weiße Bluse, schwarze Zöpfe. Und ein strahlendes Lächeln. Suzanne Desbiens, Kontaktfrau des Internationalen Verbands HIV/AIDS-infizierter Frauen. Sie sieht als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an, die Welt auf die Frauen aufmerksam zu machen, die mit dieser Krankheit leben. Aus dem Schatten der Scham und der Ausgrenzung ist es ein langer Weg. Seit zwölf Jahren ist Suzanne Desbiens HIV-positiv. Sie war 33, als sie von ihrem damaligen Sexualpartner angesteckt wurde, ein Alter, in dem sie eigentlich hätte Mutter werden wollen. Aber der Traum von Kind und Familie war damit ausgeträumt. 1987 gab es noch keine Therapie für HIV-infizierte Mütter. Die Partnerschaft ging in die Brüche, an ein Sexualleben war nicht mehr zu denken. "Wie ein Damokles-Schwert schwebte die Krankheit über meinem Kopf. Ich fiel in Depression", erinnert sie sich. Vom Psychiater zum Sophrologen, vom Psychoanalytiker zum Heilpraktiker, vom Jogi zum Vitaminspezialisten - sie hat alles versucht, um den Kopf über Wasser zu halten und ihr Schicksal zu akzeptieren. Von nun an hieß es ein Leben auf Abruf.
Mehr noch hat sie gelernt, gegen das Stigma zu rebellieren, das HIV-positiven Frauen anhaftet. Ganz automatisch werden sie als lesbisch oder drogensüchtig, als Vamp oder Hure abgestempelt. Sie hat gelernt, den Kopf wieder hoch zu tragen statt eingezogen zwischen den Schultern. Damals, als die Diagnose fiel, unterrichtete sie Malerei und Graphik. Rein psychologisch war sie zunächst nicht mehr imstande, ihren Beruf auszuüben. Erst allmählich hat sie zur Malerei zurückgefunden, die ihr half, ihre Ängste zu beruhigen, und schließlich die Kraft gab, mit Gleichbetroffenen Kontakt aufzunehmen. Sie stellte fest, dass die bestehenden Gruppen und Vereine - meist unter dem Zeichen "Gay" - von Männern dominiert waren. Als Korrelat dazu gab es ein paar kleinere Lesbengruppen. "Ich kam mir wie eine Außenseiterin unter Außenseitern vor."
Gemeinsam mit einem kleinen Kreis von Frauen - verheiratete wie alleinstehende, junge wie ältere, Frauen in den Wechseljahren, Ärztinnen, Rechtsanwältinnen - gründet sie 1994 die Gruppe "Outremont". Hier konnten sie sich aussprechen, Erfahrungen austauschen, sich gegenseitig unterstützen und fühlen, dass sie nicht allein waren. "Outremont" funktionierte wie eine Selbsthilfegruppe.
Zu der Zeit machte die kanadische Regierung große Anstrengungen, um HIV-infizierte Personen zu unterstützen. 1994 war das Budget des Gesundheitsministeriums mit 40 Millionen kanadische Dollar dotiert. Auch die AIDS/HIV-Gruppen profitierten davon. Seit 1996 arbeiten die Gesundheitsministerien Kanadas, der USA und Mexikos gemeinsam gegen die verheerenden Folgen des Virus. Auch das AIDS/HIV-Gruppennetzwerk ist einbezogen. ICW wird ins Leben gerufen. Suzanne Desbiens wird zur Vertreterin des kanadischen Netzwerks und kommt so zum erstenmal mit HIV-infizierten mexikanischen Frauen in Kontakt.
Rebellion blitzt aus ihren Augen, wenn sie von den Ärmsten der Armen im Schwellenland Mexiko spricht, die die Gesellschaft wie Huren behandelt. "Von der Dorfbevölkerung werden sie verstoßen, ihre Kinder werden ihnen weggenommen, sobald ihre Krankheit bekannt wird. Und das ist oft schlicht die Folge des Gangs zum Arzt, der es mit dem Berufsgeheimnis nicht so genau nimmt. Letzten Endes scheuen sich die Frauen, zum Arzt zu gehen, aus Furcht vor der Diagnose, aus Angst vor den Reaktionen der eigenen Familie, geschweige denn der Dorfbewohner. Auch wissen sie im voraus, dass sie die teure Medizin ohnehin nicht erschwingen können."
Hat sie sich in Montreal als Außenseiterin unter Außenseitern gefühlt, so wird sich Suzanne Desbiens jetzt ihrer Verantwortung als Vertreterin eines reichen Landes gegenüber ihren Schwestern in den armen Entwicklungsländern bewusst. Aufklärung, Wissen und Information sind für sie keine leeren Formeln mehr. Sie weiß: "Manchmal ist der Zugang zu Informationen der erste Schritt zum Überleben."
Zu ihren Aufgaben als Kontaktfrau von ICW gehört es, aus der Londoner Zentrale kommende Dokumente ins Französische zu übersetzen und sie via Internet zu ihrer Korrespondentin in Burkina Faso weiterzuleiten. Die wiederum wird sie an die Mitglieder ihrer Gruppe weitergeben. Jedes Vereinsmitglied sorgt ihrerseits für die Verbreitung der Information in ihrer direkten Umgebung. "Wir zählen auf den Pyramideneffekt unserer Arbeitsweise", erklärt sie.
Information ist gut, finanzielle Mittel für die AIDS-Therapie in den Entwicklungsländern wären besser. Als sie sich im Juli 1998 nach dem 12. AIDS-Kongress in Genf von ihrer neu gewonnenen Freundin aus Burkina Faso verabschiedete, hatte sie ein schmerzliches Gefühl. Wird sie sie je wiedersehen? Sie ist sich ihrer Begünstigung als Bürgerin eines reichen Landes des Nordens, das ihr den freien Zugang zu den neuen Komplexpräparaten verschafft, voll bewusst. In den Gesundheitsbudgets der afrikanischen Länder - auch der fortschrittlichsten wie Burkina Faso - ist für solch kostspielige Therapien kein Geld übrig. Dabei passieren in Relation zur absoluten Bevölkerungszahl die weltweit meisten Neuinfektionen in Afrika, wo überwiegend Frauen Opfer dieser Infektionen sind, oftmals verheiratete Frauen. Das beste Präventionsprogramm der Welt kann nicht verhindern, dass die Infizierten rasch sterben, wenn das Gesundheitswesen nicht in der Lage ist, sie zu pflegen. Suzanne Desbiens Erfahrungen mit HIV-positiven Frauen aus Afrika sind desillusionierend.
Angesichts der dramatischen Ausbreitung der Infektion in Afrika soll der nächste AIDS-Weltkongress in Durban, Südafrika, stattfinden. Suzanne Desbiens wird sicherlich daran teilnehmen. Für ihre Kollegin aus Burkina Faso ist es weniger sicher. Auch wird diese Freundin - außer für zuverlässigste Bekannte - anonym bleiben. Sie wird es nicht wagen, wie Gugu Dlamini, ein anderes ICW-Mitglied aus KwaZuluNatal, Südafrika, sich öffentlich zu ihrer HIV-Infektion zu bekennen. Gugu Dlamini hat dieses Bekenntnis mit ihrem Leben bezahlt. Zwei Wochen nach ihrem Outing vor den Fernsehzuschauern in Pretoria, am 12. Dezember 1998, wurde sie von ihren Nachbarn gesteinigt und zu Tode geprügelt. Sie war 36 und hat ein Kind hinterlassen. Diejenigen, die sie steinigten, waren vielleicht selbst von der "teuflischen" Krankheit infiziert, ohne es zu wissen. Über drei Millionen Menschen in Südafrika sind HIV-positiv, jeder zehnte Erwachsene; davon 55 Prozent Frauen und junge Mädchen. Vergewaltigungen gehören zu ihren täglichen Risiken in einem Land, in dem die Männer glauben, sie könnten durch Sex mit einer Jungfrau von AIDS geheilt werden.
"Das Problem der Frauen aus den Entwicklungsländern ist oft ihre Radikalität", sagt Suzanne Desbiens. "Und wie sollten sie nicht radikal sein, wo sie doch nichts mehr zu verlieren haben? Sie stehen unter dem Druck der Zeit." Ganz wie Suzanne Desbiens. Nur hat sie unvergleichlich größere Überlebenschancen und eine unvergleichlich bessere Lebensqualität.
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