Die Schulen sind vielfältig genug

Englands Weg zur Bildungsqualität Förderung hochbegabter und sozial benachteiligter Kinder - wie geht das zusammen?

Raising standards for all, so lautet das anspruchsvolle Motto, unter das Tony Blair seine Bildungspolitik gestellt hat. Für die englische Regierung verbindet sich die Verbesserung der Bildungsqualität (raising standards) und der Chancengleichheit (for all) mit der Modernisierung des staatlichen integrierten Schulsystems, aber keineswegs mit seiner Abschaffung. Vergleiche zu unserem Bildungssystem drängen sich deshalb auf, weil uns die Diskussion über Qualität, Qualitätssteigerung und Qualitätssicherung spätestens seit PISA unter den Nägeln brennt. Sollten wir alles zurückweisen oder alles übernehmen? Wohl kaum.

Specialist Schools: zwischen begeisterter Zustimmung und herber Kritik
Das Programm wurde vor zwei Jahren eingeführt. Innerhalb der nächsten Jahre soll sich die Zahl der specialist schools von derzeit 657 auf 1000 Schulen bis zum Jahr 2003 und auf 1500 Schulen bis 2005 entwickeln. Die Regierung begründet diese Entscheidung mit dem glänzenden Abschneiden der specialist schools in den league tables, dem Wettbewerbs-System, das sie eingerichtet hat.
Es handelt sich um Schulen, die sich aufgrund ihres besonderen Engagements und ausgewiesener Programme in technology, arts, sports und languages spezialisieren und sich ein besonderes Profil zulegen können, ohne dass damit der Anspruch der Kernfächer wie Englisch, Mathematik oder der Naturwissenschaften eingeschränkt wird. Die Spezialisierung soll künftig auch auf die Bereiche science, engineering, business and enterprise sowie mathematics and computing ausgedehnt werden. Den specialist schools hat die Labour-Regierung zugestanden, zehn Prozent der Schülerschaft nach eigenen Kriterien auswählen zu dürfen, und damit ihr eigenes Selektionsverbot für comprehensive schools gelockert.
Fragt man bei den Profilschulen nach, die den Status der specialist school schon erhalten haben, dann findet man breite Zustimmung bis hin zu Begeisterung. Aus legitimem Eigeninteresse kommt der Leiter der Musikabteilung am Guthlaxton Arts College, einer comprehensive school für 14-bis 19-Jährige, ins Schwärmen. Ein Traum ist für ihn wahr geworden. Man habe wunderbare Bedingungen für Musik, Tanz und Theater erhalten. Dazu gehören Räumlichkeiten, gut ausgebildete LehrerInnen und eine fabelhafte sachliche Ausstattung. Stolz zeigt er die Musikräume, in denen die SchülerInnen an Keyboards und Computern ihre eigene Musik komponieren. Dann gibt es noch das Tonstudio und den neuen Aufführungsraum. Musikinstrumente werden am Guthlaxton Arts College an SchülerInnen fast so selbstverständlich ausgeliehen wie anderenorts Bücher.
Der Thatcherismus hat mit der Bevorzugung des Privatschulsystems den Boden für die Arbeit der staatlichen Schulen so ausgetrocknet, dass der Geldregen unendlich dankbar aufgenommen wird. Zum Startkapital für jede einzelne specialist school gehören 50.000 Pfund von der Wirtschaft, auf die die Regierung 100.000 Pfund drauflegt. Dazu kommt eine gegenüber den anderen secondary schools erhöhte Mittelzuweisung über einen Zeitraum von vier Jahren. Schulen, die ihre Entwicklungsziele erfüllt haben, können sich nach Ablauf der Zeit mit einem neuen Entwicklungsplan für weitere vier Jahre bewerben.
Von einer Beeinflussung der Schulen durch die Geldgeber aus der Wirtschaft kann nach Aussage der befragten Schulen keine Rede sein. Das Verhältnis gilt aus ihrer Sicht als unproblematisch. Dagegen wird es von den Schulen eher als Belastung empfunden, dass die Regierung eine kontinuierliche Leistungssteigerung erwartet. Besonders die jährlich veröffentlichten league tables nimmt man zwiespältig wahr - als Leistungsdruck im Wettbewerb gegen andere Schulen und nicht nur als positiven Anreiz.
Ob sich die Schulen unter erschwerten Wettbewerbsbedingungen zur Selektion ihrer Schülerschaft genötigt sehen könnten? Schon um den Status und das damit verbundene Geld nicht zu verlieren? Alle Schulen, die dazu befragt wurden, weisen die Befürchtung weit von sich. Sie sind inclusive, also Schulen für alle, und wollen das auch aus Überzeugung bleiben. Die Einführung der zehnprozentigen Selektionsquote der Regierung halten sie für ein falsches Signal an die Schulen. Sie wollen jedenfalls davon keinen Gebrauch machen.
SchulleiterInnen von Schulen, die nicht den Status von specialist schools haben, aber in ihrem Umfeld arbeiten, betonen, dass die specialist schools derzeit tatsächlich nicht seligieren müssen, weil das schon der "Markt" für sie besorge. Über den Elternwillen stelle sich der Effekt ein. Die Begründung der Regierung für den Ausbau dieses Schultyps, nämlich sein Erfolg, klingt ihnen wie Hohn in den Ohren. Sei es doch kein Wunder bei der zusätzlichen Unterstützung, dass sie sich in den league tables besser präsentieren könnten. Besonders verzerrend wirke der Vergleich für Schulen an benachteiligten Standorten, da die league tables die unterschiedlichen sozialen Ausgangslagen der Schulen nicht ansatzweise berücksichtigten.

Warnung vor Polarisierung
Diese Argumentation gegen den Ausbau von specialist schools wird von der Secondary Heads Association (SHA) aufgenommen. SHA ist die angesehene nationale Schulleitervereinigung der secondary schools. Sie orientiert sich nicht interessengeleitet an der Entwicklung der einzelnen Schule, sondern hat die Schul- und Bildungsentwicklung des gesamten Systems im Blick.
In ihrer Stellungnahme vom September 2001 betont sie den Grundsatz, dass ein erfolgreiches Gesamtschulsystem die Vielfalt innerhalb der einzelnen Schulen, aber nicht zwischen den Schulen fördern sollte. Die Vereinigung warnt vor der Gefahr einer zunehmenden Ungleichheit der Schulen. Die Vorstellung der Regierung, dass es zu wenig Vielfalt gäbe und zu viel Uniformität, weist die Organisation als Mythos zurück. Sie bedauert, dass die Regierung aus den Erfahrungen ihrer Vorgängerin noch immer nicht die Lehre gezogen habe, dass wettbewerbs- und marktorientierte Strategien zwischen Schulen das Schulsystem polarisieren. Den größten Schaden fügen sie denjenigen zu, die unter erschwerten Bedingungen in benachteiligten Einzugsbereichen lehren und lernen.

Excellence in Cities: ein Programm, das Unterstützung verdient
Die Regierung sieht das Problem jedoch auch und sucht es auf ihre Weise zu lösen. Das Programm Excellence in Cities (EiC) sieht vor, dass Schulen in benachteiligten Stadtteilen durch eine zusätzliche Unterstützung und Besserstellung besonders gefördert werden. Es wurde im März 1999 gestartet. In den nächsten drei Jahren sollen rund 200 Millionen Pfund investiert werden.
Kernbestandteile aller EiC-Programme sind learning mentors, learning support centres, programmes for the gifted and talented und city learning centres. Darüber hinaus soll die Zahl der bislang 90 specialist schools im EiC-Programm wesentlich erhöht werden.
Die Bournville School in Birmingham, eine wegen ihrer pädagogischen Qualität als beacon school (Leuchtturmschule) ausgezeichnete Sekundarschule für 11- bis 19-Jährige, beschäftigt zur Unterstützung und Ergänzung der Pädagogen drei learning mentors, die aus der professionellen Jugend- und Sozialarbeit kommen. Sie haben das learning support centre konzeptionell aufgebaut und sind für dessen Einsatz verantwortlich. Für dieses Zentrum hat Bournville 115 000 Pfund bekommen.
Diese Einrichtung arbeitet als Teil der Schule und wendet sich den SchülerInnen zu, die im System aus unterschiedlichen Gründen zu scheitern drohen, weil sie sich nicht mehr konstruktiv auf die Schulangebote einlassen können. Schulabbrüche und Schulverweisungen sollen vermieden werden durch Alternativen zum regulären Unterricht. Die Angebote umfassen Einzelberatung und Einzelfallhilfen sowie Einzel- und Gruppenarbeit zu Themen, die nicht vom Curriculum vorgegeben sind, sondern sich an den Interessen und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientieren. Ihre Selbstwertgefühle zu entwickeln und zu stärken, ist das oberste Ziel. Workshops zu anger-management, self-confidence und social skills sollen den Betroffenen Gelegenheit geben, sich mit ungelösten Konflikten in der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen und alternative Handlungsmuster für das Verhalten in Konfliktsituationen zu erlernen. Mit individuellen Förderplänen wird der "Wiedereinstieg" möglich gemacht.
An dieser Stelle sei im direkten Vergleich zum deutschen System die Frage erlaubt, wie viele Überweisungen zu den Schulen für Erziehungshilfe für verhaltensauffällige Kinder vermieden werden könnten, wenn wir diese Einrichtungen an unseren Schulen hätten. Es muss auch anerkannt werden, dass England keine Schulen für Lernbehinderte kennt, weil diese dem Prinzip inclusion widersprechen. Auf schulische Sondereinrichtungen wird - so weit wie möglich - verzichtet.
Für das Programm der gifted and talented steht der Bournville School ein jährliches Budget von 46.000 Pfund zu. Gefördert werden sollen begabte und talentierte SchülerInnen: durch KünstlerInnen an der Schule, durch außerschulische Aktivitäten und durch Enrichment-Programme zum Unterricht. Bourneville hat sich für enrichment, also zusätzliche Lernangebote zur Vertiefung und Ergänzung des Unterrichts entschieden. So kann aus Sicht der Schule am ehesten ermöglicht werden, dass die individuell zugeschnittenen Angebote auch anderen SchülerInnen zugute kommen und sich für die Schule als ganze positiv auswirken.
City learning centres sollen die Schulen, die in EiC-Programmen zusammen- geschlossen sind, digital vernetzen und so den Austausch untereinander unterstützen und intensivieren. SchülerInnen bekommen Zugang zu Lernprogrammen für den häuslichen Gebrauch. Über Videokonferenzen können sie im Unterricht in Kontakt treten zu Institutionen und Ereignissen außerhalb der Schule. Informationstechnologische Weiterbildung und Fortbildung werden für alle Interessierten in der Kommune organisiert.
Für die EiC-Schulen erhebt die Secondary Heads Association die Forderung, dass sie nicht an das herkömmliche System staatlicher Qualitätskontrolle angepasst werden. Um unfaire Vergleiche zu verhindern, sollen sie auf ihre Situation bezogene, eigene Qualitätskriterien entwickeln, vereinbaren und sich daran messen lassen.
Die von EiC unterstützte Bildungsarbeit zahlt sich aus. Der beste Beweis ist das Shireland Specialist Language College, das im EiC-Programm in Birmingham eine wichtige Rolle bei der Vernetzung der Schulen spielt. Eine gemischt-ethnische Gruppe von SchülerInnen am Shireland College, die sich Shireland Voices nennen, hat sich aus Anlass der interethnischen Unruhen unter Jugendlichen in Bradford gebildet. Die Jugendlichen treten als Stimme innerhalb und außerhalb ihrer Schule für gewaltfreies, friedliches und gleichberechtigtes Miteinander aller Ethnien auf. Nach ihrer Ansicht sind die Konflikte von Bradford auf einen Mangel an kommunaler Integrationspolitik zurückzuführen. Auch die Schulen würden dort als streng getrenntes Apartheidsystem betrieben.

Was können wir lernen?
Auch unsere Bildungspolitik liebäugelt mit "diversity", Profilbildung und Autonomie in der Annahme, dass ein größerer Wettbewerb zwischen den Schulen leistungssteigernd wirke. Auch unserere Schuladministrationen wollen im Namen der Qualität Standards einführen, an denen Schulen und Schülerleistungen sich messen lassen müssen.
Wenn diese Qualitätsstrategie im englischen Gesamtschulsystem schon erkennbare Ungleichheiten zwischen Schulen und SchülerInnen hervorbringt, wie will man diese Effekte in unserem selektiven Schulsystem vermeiden?
Diese Frage drängt sich umso mehr auf, als bislang keine politischen Anstrengungen sichtbar sind, sich mit der wachsenden sozialen Ungleichheit und daraus resultierenden Bildungsbenachteiligung angemessen auseinanderzusetzen. Das Regierungsprogramm von Tony Blair hat jedoch noch eine andere Seite. Es stellt die ungerechten sozialen Ausgangsbedingungen als besondere Herausforderung dar und sucht darauf mit dem Excellence in Cities-Programm zu antworten. Die englische Regierung beschämt damit besonders diejenigen deutschen Bildungspolitiker, die die Benachteiligung hochbegabter Kinder in unserem System für das vordringlichst zu lösende Problem ansehen.

Brigitte Schumann ist Sprecherin der LAG Bildung und Schule für Bündnis 90/Die Grünen in NRW


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