Schüsse in die Luft

Die Ostdeutschen und das historische Gedenken Geschichte einer doppelten Desillusionierung

Zitieren wir anfangs einen halbwegs unvoreingenommenen Zeugen: Thomas Mann. In Erlenbach bei Zürich, etwas abseits der unmittelbaren Geschehnisse, was nicht immer schlecht sein muss, notierte er am 19. Juni 1953 in seinem Tagebuch: "Arbeiter-Revolte in Ost-Berlin, gewiß provoziert, wenn auch nicht ohne Spontaneität. Von russischen Truppen schonend niedergehalten. Panzer und Schüsse in die Luft."

Dieser Darstellung könnten vermutlich nicht wenige ostdeutsche Teilnehmer und Zeitzeugen zustimmen. Allerdings geht es beim Gedenken 50 Jahre danach um ihre Zustimmung nicht in erster Linie. Auch die Einlassung Thomas Manns ist von übergescheiten Historikern und Journalisten bereits als unverantwortlich denunziert worden. Selbst er müsste dieser Tage um Nachsicht bitten für seine Blindheit, in dem "Arbeiteraufstand", wie er westlich intendiert schnell hieß, nicht die direkte Vorstufe der "Helmut, Helmut"-Rufe des Jahres 1990 gesehen zu haben. Denn genau in diese Richtung werden zurzeit - in aller Risikofreiheit, im Gegensatz zu damals - sehr viele Schüsse in die Luft abgegeben. Auch von Nostalgie unangetastete Ostdeutsche fragen sich, woher das plötzlich erwachte Interesse an einem freilich wichtigen Stück DDR-Geschichte kommt, die sonst nachweislich weniger und dann nicht selten sehr pauschal in den Blick genommen wird.

Die Skepsis, bei manchen im Osten sogar die Aversion, sich dem angelaufenen wochenlangen Event der Gedenkkultur in vollem Umfange zuzuwenden, hängt wohl nicht zuletzt mit der privilegierten Stellung der Ostdeutschen im Bezug auf historische Erfahrungen zusammen. Sie wissen aus unmittelbarem Erleben, dass sich unterschiedlich deklarierte Gesellschaften, wenn es um Techniken zum Erhalt der Macht und zur eigenen Schönschreibung geht, in vielem außerordentlich ähnlich sind. Zu den Ähnlichkeiten des realen Sozialismus und der repräsentativen Demokratie gehört der Versuch, die eigene Existenz aus der Geschichte heraus zu legitimieren und die des politischen Kontrahenten - für die Zeit des Kalten Krieges war der Begriff "politischer Feind" angebrachter - aus eben dieser Geschichte heraus zu delegitimieren. In dieser Hinsicht doppelt desillusioniert zu sein, wie es Ostdeutsche sind oder sein können, macht empfindlicher und kritischer.

Die DDR, um damit zu beginnen, hat im Hinblick auf das mitunter bedenkenlose Zurechtfalten der Geschichte zum vermeintlichen Wohle des eigenen Ansehens eine beachtliche Strecke gelegt. Wer es nicht ahnte oder wusste, hat es nach 1990 teilweise mit Beschämung zur Kenntnis nehmen müssen. An erster Stelle seien die aufs Äußerste minimierte Information und Auseinandersetzung mit Ausmaß und Folgen des Stalinschen Terrors genannt. Auch die schnelle Vernachlässigung der Binnenursachen und die Überbetonung der äußeren Nachhilfe bei der Darstellung des 17. Juni 1953 gehören in diese Reihe. Und zahllose andere Fälle. Wie viel Verlogenes, Verbogenes und Verschwiegenes, für das neuere Forschungen nicht verantwortlich zu machen sind, hat es etwa im Zusammenhang mit der Thälmannbiografie gegeben. Da ist auch für interessierte Ostdeutsche viel kritische Masse aufgelaufen.

Aber die neue Zeit hat neue und andere Versäumnisse beim Umgang mit der Geschichte hervorgebracht, die im Osten Grundvertrauen in nunmehrige Vorurteilsfreiheit nicht recht aufkommen lassen. Das betrifft an vorderer Stelle den in jeder Bedeutung des Wortes halsbrecherischen Umgang mit der Geschichte der DDR, wie er lange Zeit gepflegt wurde und teilweise noch heute auftritt.

War die DDR bis 1989, nicht zuletzt dank westlicher Assistenz, zumindest wichtig gestellt worden, reichten in den zwei, drei Jahren danach unter westdeutscher Regie ein paar Schlagworte - "Unrechtsstaat", "verordneter Antifaschismus", "Staatsbankrott", "marode Plattenbauten" - um alles auf Null zu drehen. Auch wer nicht bestreitet, dass an all diesen Schlagworten bittere Wahrheiten hängen, sah sich um etwas gebracht, das sich keiner gern nehmen lässt: die individuelle Biografie und Motivation. Der Antifaschismus war sehr gewollt in der DDR, wofür sich übrigens keiner entschuldigen muss, aber er ist mitgetragen worden von dem ganz persönlich begründeten Antifaschismus nicht weniger Menschen. Wir hatten schließlich einen großen Krieg und sein verheerendes Ende. Die Wirtschaft der DDR war, jawohl, wirklich niemals in gutem Zustand. Aber es haben dort Millionen unter teilweise miserablen Bedingungen bis zur Selbstaufopferung gearbeitet. Darunter, auch wenn das heute schon gar keiner lesen und hören will, viele Mitglieder der SED. Die Wohnung in einem Plattenbau mögen Westdeutsche in die Nähe der Asozialität rücken: Für viele im Osten war der Erstbezug mit einem großen Glücksempfinden verbunden.

All dies, was das Leben von DDR-Bürgern nicht allein, aber durchaus wesentlich bestimmt hat, findet in der Geschichtsschreibung nicht statt, wenn unter westdeutscher Führerschaft - das Wort "Verordnung" schenken wir uns - die DDR reduziert wird auf die Staats- und SED-Geschichte, in der die individuellen Biografien bestenfalls Illustrationsmaterial sind für den aus westdeutscher Perspektive anachronistischen historischen Zug. Diese brutale Verortung der DDR-Bürger in eine missliebige und des Nähertretens eigentlich nicht lohnende Politgeschichte, was bis in diskriminierende Gesetze durchschlug, hat viel kaputt gemacht. Daran kann massive Einzelfallzuwendung, jetzt beispielsweise im Zusammenhang mit dem 17. Juni, auch da, wo sie ehrlich gemeint ist, kaum etwas ändern. Zumal sich auch hier im Übermaß jene aus Ost und West produzieren, die sich immer produzieren, deren stramm justierte Feindbilder man schon selbst malen kann. Gearbeitet werden müsste an einer größeren Berührungsfläche der hohen Geschichte - weiß Gott nicht alles, was Westdeutsche über die DDR sagen, ist falsch - mit der erlebten Geschichte. Und zwar mit der ganzen, nicht nur der ausgewählter, besonders genehmer Seiten.

Auch in den Debatten um den 17. Juni fiel etwas auf, das Ostdeutsche vielleicht deshalb deutlicher bemerken als Westdeutsche, weil sie schon einen Untergang hinter sich haben. Und das ist keineswegs ironisch, sondern ernst gemeint. Nicht nur, dass in den Augen vieler westdeutscher Historiker und Kommentatoren und ihrer ostdeutschen Stichwortgeber die DDR bereits 1953 so war wie 1989, was wahrhaft anachronistisch ist. Auch die Bundesrepublik Deutschland war 1953 schon so schön, wie sie es anscheinend bis heute geblieben ist. Während Ostdeutsche, die sich 1990 in einem anderen Land wieder fanden, die neuen Verhältnisse und erst recht die alten kritisch befragen mussten, steht auf westdeutscher Seite den Gewissheiten über die Schändlichkeit der DDR bereits im Jahre 1953 und folgenden Jahrzehnten kaum ein erkennbarer Wille zu kritischer Selbstbefragung gegenüber. Es ist doch vorstellbar, dass die BRD des Jahres 1953 mit ihren vielen alten Nazis, zu denen sich weitere aus der DDR gesellten, weil sie sich im Westen besser aufgehoben fühlten, auf DDR-Bürger trotz des schlechten Lebensstandards nicht die Anziehungskraft hatte, die heute unterstellt wird. Aber danach und nach manchem anderen fragt kaum einer.

Der immer aufs Neue geführte Nachweis, dass die DDR keine Zukunft hatte, was nicht zu widerlegen ist, hat auch etwas sehr Rückwärtsgewandtes. Er erinnert manchen Ostdeutschen mitunter an die Hingabe, mit der DDR-Verantwortliche sich ihrer Zeit im antifaschistischen Widerstand erinnerten, als sie gegen beinahe ein ganzes Volk Recht behalten haben. Es hat ihr teils tragisches, teils schmähliches Scheitern nicht verhindert. Man muss außer einer Vergangenheit auch eine Perspektive haben. Die wird in Deutschland zurzeit dringend gesucht. Und dabei sollte man die Ostdeutschen nicht unterschätzen. Schon weil wenigstens sie die Relativität eherner Gewissheiten kennen.


Die unmittelbar vor dem 17. Juni 1953 gefassten Beschlüsse der SED-Führung unter anderem zur Revision der Normerhöhungen können den Ausbruch des öffentlichen Protestes nicht mehr verhindern. Vielmehr brechen am Tag der Unruhen die seit 1952 angestauten Gegensätze vollends auf. Viele Funktionäre und Mitglieder der SED stehen den Ereignissen teilweise ebenso hilf- und orientierungslos gegenüber wie die Einheiten der Kasernierten Volkspolizei (KVP), die zum Schutz von Plätzen und öffentlichen Gebäuden eingesetzt werden. Schätzungsweise eine halbe Million Menschen beteiligen sich am 17. Juni 1953 landesweit an Demonstrationen und Kundgebungen.


Die Woche vor 50 Jahren

13. Juni
Arbeiter mehrerer Berliner Baustellen beschließen, am 15. Juni gegen die verordnete Normerhöhung zu streiken. Laut Tagesbericht des ZK stößt es in der Bevölkerung auf massive Kritik, dass sich kein führender SED-Politiker zur krisenhaften Lage öffentlich äußert.

14. Juni
An der SED-Basis wächst Widerstand gegen den "Neuen Kurs" zugunsten der Großbauern und der Kirche. Häufig wird gefragt, ob es jetzt keinen Klassenkampf mehr gäbe. Auf dem Land mehren sich dagegen Stimmen für eine Auflösung der LPG.

15. Juni
Auf vielen Großbaustellen im Osten Berlins wird für eine Rückkehr zu den alten Normen gestreikt. Der FDGB-Bundesvorstand, von dem sich die Streikenden Unterstützung erhoffen, hält sich bedeckt. In einer Resolution wird von Ministerpräsident Grotewohl eine Klärung der Normenfrage bis zum Mittag des 16. Juni gefordert.

16. Juni
Nachdem der stellvertretende FDGB-Vorsitzende Lehmann in der Zeitung Tribüne die Normerhöhung gerechtfertigt hat, formieren sich in Berlin spontane Demonstrationen. Das Politbüro lässt per Rundfunk den Ratschlag an die Regierung verkünden, die Normbeschlüsse zu annullieren. Demonstranten fordern vor dem Berliner Haus der Ministerien eine Erklärung von Ulbricht und Grotewohl. Am nächsten Tag soll ab 7.00 Uhr morgens erneut gestreikt werden.

17. Juni
Da zunächst nur Berlin als Krisengebiet gilt, werden bereits am frühen Morgen sowjetische Truppen um die DDR-Hauptstadt zusammengezogen. Nach kurzer Zeit treffen jedoch Meldungen aus dem ganzen Land im sowjetischen Hauptquartier in Karlshorst ein, wo sich auch die SED-Spitze zur Einsatzplanung aufhält. Proteste gibt es neben Berlin in Magdeburg, Leipzig, Halle, Bitterfeld, Merseburg und anderen Städten. Nachdem vielerorts Gefängnisse und Stadtverwaltungen gestürmt wurden, greifen sowjetische Truppen ein. Über Berlin wird ab 13.00 Uhr der Ausnahmezustand verhängt.

18. Juni
Entgegen der Erwartung, hält die Moskauer Führung an Walter Ulbricht fest, da der Aufruhr laut offizieller Version nicht durch Fehler der SED-Führung ausgelöst wurde, sondern als "faschistischer Putschversuch" und Verschwörung des Westens eingestuft wird. Mutmaßliche Haupträdelsführer werden von der Sowjetarmee standrechtlich erschossen, darunter auch Bürger aus Westdeutschland und Westberlin. Angaben über die Todesopfer schwanken zwischen 50 und 125.

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