Mühsam auf seine Krücke gestützt, humpelt Sami (20) die staubige Straße hinab. Seine Füße stoßen an achtlos hingeworfene Plastikflaschen und plattgefahrene Konservendosen, er quält sich unter Schmerzen vorwärts. Sein Freund Khalid (12) ist etwas behender, die schwere Bauchverletzung merkt man ihm kaum noch an, doch nach einem Arbeitstag in der Nähfabrik seines Onkels bewegt auch er sich nur langsam vorwärts. Sami und Khalid haben sich im Hospital von Gaza kennen gelernt, nachdem sie beide am gleichen Tag angeschossen worden waren. Beide gehören zu den rund 50 palästinensischen Kindern und Jugendlichen, die auf Initiative von Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem deutschen Krankenhaus behandelt wurden.
Heute sind sie wieder in Gaza-Stadt, deren Bewohner sagen, die Zeit habe sie vergessen; in einer Stadt, deren Polizisten einen mit "Welcome to Nicaragua!" begrüßen, in einer Stadt, die ihren Kindern kaum eine Perspektive bieten kann, zumal die Palästinensische Autonomiebehörde nach UN-Berichten pleite sein soll. Und dennoch gibt es für Khalid und Sami keine Alternative zu diesem Leben. Khalid schüttelt entgeistert den Kopf bei dem Gedanken, Gaza womöglich zu verlassen: "Niemals. Ich werde hier bleiben und kämpfen, bis das Land frei ist - Gaza ist meine Heimat!"
Ein halbes Jahr ist es jetzt her, dass die Palästinenser, provoziert vom Auftritt Ariel Sharons auf dem Tempelberg, das begannen, was inzwischen als "zweite Intifada" bezeichnet wird. Ein Ende der Kämpfe ist nicht abzusehen. Im Gegenteil. Die Spirale der Gewalt vollzieht jeden Tage ein weitere Drehung nach oben. Im Gaza-Streifen, der mit rund einer Million Einwohnern auf knapp 365 Quadratkilometern die höchste Bevölkerungsdichte der Welt aufweist, ist die Situation besonders prekär: Die Bewohner sind ökonomisch fast total vom "Feind" abhängig. Strom- und Wasserversorgung kommen aus Israel, die meisten Palästinenser haben ihren Arbeitsplatz jenseits des Kontrollpostens Erez. Alle Grenzen, einschließlich des Hafens und des Flughafens, werden von Israel kontrolliert - ein Zustand, der nach wie vor aus der Sicht Tel Avivs nicht verhandelbar ist.
Donnerstag, sieben Uhr morgens. Gemeinsam mit seinen fünf Cousins und vier weiteren Arbeitern sitzt Khalid vor einer der Nähmaschinen in der Schneiderei seines Onkels. Aus dem Radio dröhnt laute arabische Musik, an der kahlen, weißen Wand steht ein Zitat aus dem Koran. Eigentlich hätte Khalid heute früh gegen vier Uhr zum Markt östlich von Khan Yunis fahren sollen, um dort Pullover, T-Shirts, Röcke und Unterwäsche anzubieten. Aber der Gaza-Streifen ist wieder einmal auf Höhe von Khan Yunis geteilt - eine israelische Straßensperre aus Panzern und Blechtonnen reduziert den Bewegungsradius der Bewohner von Gaza auf 27 Quadratkilometer. Die Kollektivstrafe für Anschläge radikalisierter Palästinenser verhindert, dass Verwandte und Freunde sich besuchen können, dass Krankenwagen von Süden zum Hospital in Gaza kommen und Händler ihre Ware liefern können.
Also bleibt Khalid heute in Schejair, dem ältesten und am weitesten östlich gelegenen Stadtteil von Gaza, in dem er mit seinen Eltern, seinen vier Geschwistern und der Großfamilie seines Onkels lebt. Gegen zehn Uhr läuft der passionierte Handballfan, vorbei an den Eselskarren mit Wasserbehältern, den grauen Beton-Behausungen und den mit Erinnerungen an die Märtyrer des palästinensischen Befreiungskrieges verzierten Häuserwänden, zu dem kleinen Laden um die Ecke, um Frühstück für die Arbeiter zu holen - einfaches Pieta-Brot, etwas Gemüse und Houmus. Danach macht er sich daran, die Nähte halb-fertig genähter Röcke sauber aufeinander zu legen, um den nächsten Arbeitsschritt vorzubereiten. Aber immer wieder bleiben die Nähmaschinen in der kleinen Fabrik stehen: die Stromversorgung aus Israel wird drei bis fünf Mal pro Tag unterbrochen. Khalid interessiert das heute nicht, denn es ist ein besonderer Tag für ihn. Zum ersten Mal wird er wieder in einem der gelben Taxis zu der Stelle fahren, an der er sich vor fünf Monaten drei Bauchschüsse aus israelischen Maschinengewehren eingefangenen hat: Al Montar.
Die Anhöhe mit dem streng kontrollierten Durchgang für den Güterverkehr liegt knapp zwei Kilometer östlich von Gaza-Stadt. "Hier ist es passiert", erklärt Khalid ohne Angst und deutet mit einer weiten Handbewegung auf ein unwirtliches Steinfeld, das einen genauen Blick auf die "Green Line", die Grenze zwischen Palästina und Israel, erlaubt. Die Luft steht vor Hitze, es sind kaum Geräusche zu hören, eine atemlose Spannung liegt über dem von israelischen Panzern gerodeten Hang. Ein paar Kinder haben sich versammelt, Schleudern und Steine in der Hand, um damit gegen Panzer und Maschinengewehre angehen zu können, sollte sich das israelische Militär auf palästinensisches Gebiet wagen - die klassische David-gegen-Goliath-Situation.
Genau so haben sich Khalid und seine Freunde am Nachmittag des 1. November im vergangenen Jahr auf Al Montar getroffen, als die Israelis die Bäume auf der Anhöhe mit ihren Panzern niederwalzten, um die Grenze mit ihren Spähpanzern besser kontrollieren zu können. "Wir wollten sie mit unseren Steinen vertreiben, sie haben hier schließlich nichts zu suchen", sagt der Junge mit fester Stimme, unterstreicht das Gesagte mit einer männlich anmutenden Geste und fügt hinzu. "Es ist unser Land!" Für ihn existiert der Palästinenserstaat längst, auch wenn Arafat zögert, ihn auszurufen. Und die Armee wehrte sich - mit Dumdum-Munition. Khalid blieb keine Zeit mehr zum Weglaufen: drei Bauchschüsse, deren Narben er stolz unter dem hochgehobenen HSV-T-Shirt zeigt, streckten ihn nieder, noch am gleichen Tag wurde er in Gaza operiert.
Dieser 1. November ist auch Samis Schicksalstag. Knapp eine halbe Stunde nach Khalid wird ein siebenjähriges Kind verletzt und Sami ist als Ersthelfer vor Ort. "Ich habe den israelischen Soldaten ein Zeichen gegeben, dass ich Sanitäter bin und nur helfen möchte, aber es wurde einfach weiter geschossen", erzählt der gelernte Schlosser mit leiser, ernsthafter Stimme. Sekunden, die sein Leben verändern. Ein Geschoss trifft seinen Unterbauch und nach drei Tagen in Lebensgefahr steht fest: Sami wird seinen Beruf wohl nie mehr ausüben. Er kann zwar, wenn alles gut geht, in etwa einem halben Jahr wieder ohne Gehhilfe laufen, aber seinen Lieblingssport, Karate, wird er für immer aufgeben müssen.
Gut eine Woche liegen Sami und Khalid Seite an Seite in einem kargen Drei-Bett-Zimmer im Shifa-Hospital in Gaza, da fällt die Entscheidung der Bundesregierung, in einer einmaligen Aktion rund 50 palästinensische Kinder in Deutschland zu versorgen. Sami und Khalid gehören zu den vier Patienten, die unter 5.000 Verletzten von einem Experten-Team der Bundeswehr ausgewählt und 14 Tage lang im Hamburger Bundeswehr-Krankenhaus versorgt werden.
Zwei Wochen später schickt man zwölf der 50 Kinder wieder über Kairo nach Hause - und damit auf eine weitere Odyssee: Die Lage in Nahost hat sich verschärft, und israelische Militärs haben den Gaza-Streifen zwischen Khan Yunis und Deir-al-Balah durch eine Straßensperre geteilt, die es unmöglich macht, von Süden nach Norden zu reisen. "Wir sind von Kairo aus rund sieben Stunden mit dem Taxi zum Grenzposten nach Rafah gefahren und haben dort zunächst acht Stunden gewartet", erinnert sich Sami, der sich bis heute immer noch sehr schonen muss. Dann, streng bewacht von der israelischen Armee und unter den Läufen zahlreicher Maschinengewehre, die ständig auf die kleine Gruppe gerichtet waren, gehen er und seine elf Mitreisenden schnell zu Fuß durch das etwa einen Kilometer breite Niemandsland zwischen Israel und Palästina. Sami schüttelt verständnislos den Kopf: "Solche Angst haben die Israelis vor angeblichen Gewalttätern..." Doch damit ist die Reise immer noch nicht zu Ende. Gut 60 Stunden muss Sami auf die Genehmigung warten, dass ihn ein Krankenwagen von Khan Yunis durch die Straßensperre nach Gaza bringen kann. Khalid und sein Onkel, der ihn nach Deutschland begleitetet hat, versuchen, die Sperre auf einem Schleichweg zu umgehen. "Aber als sie auf uns geschossen haben, sind wir umgedreht und haben vier Tage warten müssen, bis wir nach Gaza weiterreisen konnten", erzählt Khalid mit ernsten, braunen Augen.
Während er fast wie früher in der Fabrik und mit seiner großen Familie lebt, ist Sami durch seine Verletzung ein ganz anderer Mensch geworden. "Sami hat früher so viel unternommen, er war jeden Tag beim Sport, hat sich ehrenamtlich in der Freiwilligen Feuerwehr und als Sanitäter engagiert und sich in seinem Beruf fortgebildet", erinnert sich sein Arzt, der den hochgewachsenen, schmalen 20-Jährigen seit fünf Jahren kennt. Doch von dieser Lebenslust ist nicht viel übrig geblieben. Wenn Sami drei Mal die Woche ins Shifa-Hospital fährt, um mit Hilfe von Wärmebehandlungen und eines Physiotherapeuten seine geschwächten Muskeln und Reflexe wieder aufzubauen, dann schafft er es gerade einmal zwei Minuten mit schmerzverzerrtem Gesicht langsam und ohne Krücke auf dem Laufband zu gehen. Er soll regelmäßig Beruhigungsmittel nehmen, obwohl er die Nebenwirkungen fürchtet.
An manchen Tagen kann Sami nicht einmal auf die Straße gehen: psychisch bedingte Asthma-Anfälle rauben ihm den Atem. Der einst so aktive Junge ist jetzt am liebsten allein. In dem kargen, roh verputzten Haus seiner Eltern, in dem sich neun Geschwister und die Eltern drei Zimmer teilen, nimmt er ein kleines, rundes Metallstück aus dem Rattanregal: "Von diesen Splittern haben sie 20 aus meinem Körper geholt. Teile eines Dumdum-Geschosses." Und bei all dem hatte Sami noch Glück - anders, als viele seiner Freunde, die auf dem Märtyrerfriedhof, knapp einen Kilometer nord-östlich von Schejair, begraben sind.
Mit Einbruch der Dunkelheit ziehen sich die Bewohner von Gaza in ihre Häuser zurück, die Stadt am Mittelmeer, die ein belebtes Urlaubsparadies sein könnte, ist wie paralysiert. "Die Menschen haben Angst", sagt Khalids Onkel. Khalid selbst nutzt die kurze Zeit zwischen Feierabend und Sonnenuntergang, um mit ein paar Freunden auf der sandigen Straße vor seinem Haus mit Murmeln zu spielen. Auf einer Straße, in der die Intifada allgegenwärtig ist. Einer seiner Freunde trägt ein T-Shirt mit dem Bild des erschossenen Mohammad Al-Durrah, der Hintergrund zeigt die Al Aqsa-Moschee. So gut wie jede Häuserwand ist mit arabischen Sätzen beschrieben, in denen den Familien der mittlerweile rund 400 toten Palästinensern für ihr Opfer im Kampf um das Heiligtum der Mohammedaner gedankt wird. Doch sobald es dunkel ist, geht Khalid nach Hause, schläft unter einer warmen Wolldecke neben seinen Geschwistern. Manchmal träumt er den Traum seiner Zukunft: er möchte Geschäftsmann werden, wie sein Onkel, in einem friedlichen Gaza.
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