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#unten Warum gibt es noch keine klassenpolitische Ergänzung zu #MeToo und #MeTwo?
Ausgabe 45/2018

Es war eine Befreiung. Als vor einem Jahr in den sozialen Medien unter #MeToo eine Diskussion um Sexismus und sexualisierte Gewalt begann, da erhielten die Betroffenen eine Stimme. Das Echo ging über die Online-Kanäle hinaus und ist seitdem nicht verstummt. Im Juli dieses Jahres folgte unter #MeTwo eine Kampagne zu nationaler Identität und persönlichen Erfahrungen mit Rassismus – ein zweiter gesellschaftspolitischer Hashtag mit großer medialer Resonanz, der zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte führte.

Doch warum gibt es eigentlich keinen ähnlich lauten Aufschrei der Betroffenen mit benachteiligter sozialer Herkunft? Wieso existiert keine größere gesellschaftliche Sensibilität dafür, wie stark das Elternhaus darüber entscheidet, ob ein Mensch in der Gesellschaft seinen Platz finden kann? Weshalb klagen noch immer kein einflussreicher Hashtag und keine mediale Debatte die Klassengesellschaft an?

Fallstricke der Debatte

Ein Grund für die Randständigkeit des Themas: Die Betroffenen befinden sich selten in diskursprägenden Positionen. Wichtige Akteure im Kampf um Deutungsmacht sind Journalisten. Die Sozialwissenschaftlerin Klarissa Lueg fand heraus, dass mehr als zwei Drittel der Journalistenschülerinnen und -schüler in Deutschland einer privilegierten sozialen Herkunft entstammen und Eltern haben, die als Beamte oder Angestellte mit Hochschulabschluss im gehobenen bis sehr gehobenen Dienst tätig (gewesen) sind.

Auch der Politikwissenschaftler Peter Ziegler hat die Herkunft des journalistischen Nachwuchses empirisch erforscht. Seine Studie Die Journalistenschüler kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: „Bei den Berufen der Eltern der Befragten dominiert der Beamte. Der Beruf des Arbeiters kommt bei den Vätern kein einziges Mal, bei den Müttern selten vor.“

Aus diesem Grund gibt es auch eine Leerstelle in den bisherigen Hashtag-Kampagnen #MeToo und #MeTwo. Ohne Frage haben sie wichtige Diskussionen ins Rollen gebracht und vor allem weitere Betroffene ermutigt, ihre Geschichten zu erzählen. Wahr ist aber auch, dass Stimmen mit direkten Bezügen zu unteren Klassen dort systematisch unterrepräsentiert sind.

Ursula März hat in der Zeit darauf hingewiesen, dass es einen Unterschied macht, ob eine junge Journalistin „von ihrem Ressortleiter beauftragt wird, mit einem Politiker ein Interview zu führen, weil er sich bei ihr aufgeschlossener zeigen könnte als beim männlichen Kollegen“, oder ob eine Drogeriemarktkassiererin mit weniger kulturellem und ökonomischem Kapital „vom Filialleiter nach Ladenschluss körperlich bedrängt und bei Ungefügigkeit mit fristloser Kündigung bedroht wird“.

Ein weiterer Fallstrick für eine offene Debatte: Will man die Benachteiligung der einen aus dem diskursiven Schatten holen, müssen Privilegien der anderen beleuchtet werden. Und das betrifft nicht nur die Sprösslinge superreicher Unternehmerdynastien, sondern auch jene, die hart dafür arbeiten mussten, um dorthin zu gelangen, wo sie jetzt selbst sind. Da geht es etwa um Leute, die ein Elternhaus haben, das einen im finanziell prekären Studium und der ersten Phase nach dem Abschluss unterstützt, berufliche Erfolgsrezepte weitergibt oder ein Netzwerk aktivieren kann.

Das ist ein struktureller Vorteil, über den viele nicht gern reden. Ohne eine Reflexion der Privilegien würde aber eine Diskussion um ein klassenpolitisches #MeToo nicht funktionieren. Die Fraktionen der lohnarbeitenden Klasse stehen in einer direkten Beziehung zueinander. Genauso wie es für eine Kritik der Geschlechterverhältnisse klar ist, dass die Vorteile des Mann-Seins in der Gesellschaft wichtige Auskünfte geben darüber, was die Rolle der Frau definiert.

Relevant ist dabei nicht nur der materielle Hintergrund einer Person, sondern auch die Prägung durch Erziehung und Sozialisation. Schüchternheit und Selbstunterschätzung sind bei sozialen Aufsteigern typisch. Oft zeigt sich eine Scham ob des Gefühls, nicht in die neue berufliche Position hineinzupassen. Der Soziologe Michael Hartmann hat das in seinem Buch Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten? am Beispiel eines Journalisten beschrieben, der aus einer nichtakademischen Familie stammt: „Er habe immer, wenn er mit den Bürger- und Großbürgerkindern unter seinen Kollegen zu tun habe, den Eindruck, sie hätten so etwas wie ein letztes Geheimnis, das er nicht kenne. Vielleicht noch wichtiger aber sei, dass er keine Ahnung habe, worin dieses Geheimnis bestehe, und er deshalb auch nicht adäquat reagieren könne. Er sitze dann da und wisse einfach nicht, ob die anderen jetzt innerlich wieder den Kopf schütteln über einen Fauxpas seinerseits.“

Das Zweifeln des Aufsteigers als individuelle Selbstabwertung zu fassen, greift aber zu kurz. Es speist sich aus einem gesellschaftlichen Klima, das Menschen ausgrenzt. Angefangen bei der Rede von „sozial Schwachen“ – als sei ein leeres Konto gleichbedeutend mit unsozialem Verhalten – bis hin zum Unterschichten-Bashing, in dem über die angebliche Faulheit und Dummheit „derer da unten“ gelacht wird.

Diesen Abwertungen ist die Leistungsideologie eingeschrieben, die Armut als persönliches Versagen deutet. Barrieren werden ausgeblendet, und ein Lebensstil (sportlich, gesund und smart) wird zum Indikator für ein erfolgreiches Leben. Wer sein Scheitern auf schlechte Leistung zurückführt, wird kaum das Selbstbewusstsein entwickeln, mit dem die ungleich stärker im medialen Fokus stehenden Debatten um Rassismus und Sexismus durch die Betroffenen selbst geführt werden können.

Britta Steinwachs ist Soziologin. Sie lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihr das Buch Zwischen Pommesbude und Muskelbank. Die mediale Inszenierung der „Unterschicht“ (Edition Assemblage 2015, 157 S., 16,80 €)

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