Als ich noch Schüler war

Flucht Das Bistum Köln lässt 100 seiner Kirchenglocken je 230 mal läuten, um an die 23.000 Flüchtenden zu erinnern, die in den letzten 15 Jahren auf dem Mittelmeer ertranken

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Als ich noch Schüler war

Foto: Patrik Stollarz/AFP/Getty Images)

Dazu passend: Ein Kommentar zur aktuellen Flüchtlingspolitik, ein Poetry Slam-Text zu eben diesem Thema:

Als ich noch Schüler war, wurde uns im Geschichtsunterricht gesagt, dass die Menschen in Ostdeutschland, unter anderem in Dresden, an jedem Montagabend zu zehntausenden aus den Kirchen der Stadt nach draußen zogen, um friedlich für Freiheit und Recht zu demonstrieren. Montagsdemonstrationen nannten die das und fast alle in Deutschland fanden es super, sie riefen „wir sind das Volk“ und irgendwann hatten sie ihr Ziel erreicht. Diese Menschen, so sagte man mir, riskierten für Einigkeit und Recht und Freiheit ihr Leben oder nahmen zumindest einige Einbußen in Kauf und sind somit die Helden einer friedlichen Revolution, Ansporn, Vorbilder, Mutmacher und Verpflichtung zugleich.

Heute leben in Sachsen - dem Bundesland zu dem Dresden gehört - 5.000 muslimische Menschen und circa 80.000 NPD-Wähler.

Und auch heute gehen in Dresden, besagter Stadt wieder rund 10.000 Menschen auf die Straße: Montagabends treffen sie sich zu ihren „Spaziergängen“, zu ihren Montagsdemonstrationen und rufen auch wieder „wir sind das Volk“.

Diese neuen Demonstrationen aber finden in Deutschland zum Glück nicht mehr alle gut, dennoch hat Pegida über 150.000 Facebook-Fans und die zaghafte Unterstützung der AfD, einer Partei, die Deutschland im Europaparlament vertritt. Bernd Lucke, der Vorsitzende der AfD sagt zum Beispiel, dass man die Ängste der Menschen ernst nehmen müsse.

George Freeman, ein beliebter Schauspieler, hingegen, hat einmal gesagt, dass er das Wort ‚Homophobie‘ nicht mag, weil ein Homophober keine Angst hätte, sondern einfach - und hier zitiere ich - ein Arschloch sei. Ich denke, das kann man auf Xenophobie übertragen.

Wobei ich, als ich noch Schüler war, gelernt habe, eigentlich erst die Fakten zu nennen, unvoreingenommen zu bleiben und mir erst anschließend eine Meinung zu bilden. Es gab und gibt aber Themen, da fällt einem das schwer: Wenn zum Beispiel Menschen in einer Stadt, in der es mehr Nazis als Muslime, mehr Muslime als Flüchtlinge und mehr Flüchtlinge als kriminelle Ausländer gibt, als ‚Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ auf die Straße gehen, Ängste Schüren und Hass ausleben, ist das für mich einfach nicht nachzuvollziehen. Denn eine Statistik des Bundesarbeitsministeriums besagt, dass Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, die Sozialkassen unter’m Strich ent- statt belasten, eine Finanzberaterin habe ich mal sagen hören, dass deren Enkel auch mal meine Rente zahlen, meine Tante, eine Geschäftsführerin bei einem ökologischen Saatgut-Anreicherungs-Betrieb sagt, sie habe in einem ehemaligen Asylbewerber den Agraringenieur gefunden, den sie vorher lange gesucht hat, ein Freund von mir, der ehrenamtlich bei der Flüchtlingshilfe in Bremen arbeitet vermisst mich kaum, weil er bei seiner Arbeit viele neue, weitere Freunde gefunden hat und keiner den ich kenne oder der wen kennt den ich kenne wurde jemals zum Opfer eines von Flüchtlingen begangenen Verbrechens.

Trotzdem mussten wir uns, als ich noch Schüler war mit den Anschlägen auf Flüchtlingsheime unter anderem in Rostock-Lichtenhagen vor 20 Jahren beschäftigen.

Heute bin ich kein Schüler mehr, aber Ende letzten Jahres brannte wieder Asylbewerber_innen-Heime, unter anderem in Nürnberg.

Wenn man jung ist, will man sich noch alle Dinge erklären. Doch es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, eine solch feige Tat zu begehen.

Als ich noch Schüler war haben wir aber auch das christlichen Gebot der Nächstenliebe kennengelernt. Und alles richtig machen wir im Umgang mit Flüchtlingen - nicht nur demnach - nicht: Wir bauen eine Festung um Europa, lassen Menschen auf unseren Meeren zur Abschreckung ertrinken, weil der Europäischen Union das Seenotrettungsprogramm der italienischen Regierung, die es nach Monaten nicht mehr alleine finanzieren wollte zu teuer war. Das Seenotrettungsprogramm ‚Mare Nostra‘ kostete 12 Millionen Euro im Monat und half den Menschen effektiv; der monatliche Umzug des EU-Parlamentes von Brüssel nach Straßburg und zurück kostet jedes Mal rund 10 Millionen Euro, macht das Arbeiten dafür komplizierter und ist nichts mehr als nationales Gehabe. Aber auch den Flüchtenden, die es zu uns nach Deutschland schaffen, machen wir es nicht leicht. So werden Asylbewerber_innen hierzulande aktiv aus der Gesellschaft rausgehalten, dürfen beispielsweise noch nicht einmal unentgeltlich arbeiten oder sich zumindest frei und über die jeweiligen Stadtgrenzen hinaus bewegen und werden so in Parallelgesellschaften gedrängt. Ein Beispiel: Die Kinder können nicht in einem Fußballverein spielen, weil Auswärtsfahrten ins Nachbardorf verboten wären oder der Agraringenieur, den meine Tante kennengelernt hat, darf, obwohl er studiert und berufserfahren ist und beide Seiten gerne voneinander profitieren würden, seine Fähigkeiten schlichtweg nicht in den Betrieb einbringen.

Davon, dass andere wirtschaftlich schwächere Länder, wie beispielsweise der Libanon, der bei einer Einwohnerzahl von 4,5 Millionen Menschen rund 800.000 Flüchtlinge aufgenommen hat, erheblich mehr Hilfsbereitschaft zeigen, will ich hier gar nicht reden. Es ist schließlich die falsche Herangehensweise, denn jeder Mensch, der in Deutschland ist - und alle anderen im übrigen natürlich auch - hat besondere Fähigkeiten und Talente, jeder Mensch, der hier in Deutschland ist, will Teil unserer Gesellschaft sein und dementsprechend sollten wir ihnen mit Offenheit statt Ausgrenzung, mit Toleranz statt falschen Ängsten und mit vielleicht auch mit Pragmatismus statt falschem stolz begegnen.

Als ich noch Schüler war, hörte ich die Rede des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, der sagte, er habe einen Traum.

Und so einen habe ich auch: Ich träume von einem Deutschland, in dem Hilfe eine Selbstverständlichkeit ist und ein friedliches Leben in Freiheit und Sicherheit für jeden Menschen Realität; einem Deutschland, indem dieser Text niemals hätte geschrieben werden müssen.

Denn ein Text der mit ‚als ich noch Schüler war‘ überschrieben ist, darf ruhig ein bisschen naiv sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Bühlbecker

Jan Bühlbecker. Slam Poet, Jungsozialist & Sozialdemokrat. Liebt Queer-Feminismus, Fußball, das Existenzrecht Israels & Hashtags.

Jan Bühlbecker

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