Eine sozialpolitische Trendwende

SPD Andrea Nahles will Hartz IV überwinden und schlägt ein neues Bürgergeld vor. Eine Analyse des Vorstoßes und politische Ergänzungen

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Eine sozialpolitische Trendwende

Foto: Sean Gallup/Getty Images

SPD-Chefin Andrea Nahles hat grundlegende sozialpolitische Kurskorrekturen unserer Partei angekündigt und verbindet damit den Umbau unseres Sozialsystems hin zu einer Partner*innenschaft zwischen Bürger*in und Staat. Das ist ein echter Aufbruch, der zeigt, dass die Neuaufstellung der SPD zum einen sehr wohl immer noch gelingen kann und zum anderen auch weiterhin nicht allein über Personaldebatten oder Onlineumfragen, sondern zuvorderst immer nur über Inhalte entschieden werden kann und muss und darf. Jetzt heißt es: Mutig bleiben, Genoss*innen und die sozialpolitische Trendwende wagen - hin zu mehr Gerechtigkeit!

Andrea Nahles will also, dass der Sozialstaat nicht mehr als zu überwindende Festung angesehen wird. Sie will die Partizipation erleichtern und so verloren gegangenes Vertrauen wieder herstellen. Das ist ein richtiger Schritt. Konkret sagt sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Wer etwa arbeitslos wird, meldet sich bei der Arbeitsagentur. Der dortige Ansprechpartner ist dann für ihn verantwortlich und übernimmt die Funktion eines Lotsen. Er muss den Betroffenen durch die unterschiedlichen Angebote des Sozialstaats führen und mit anderen Behörden wichtige Fragen klären, zum Beispiel, ob auch ein Wohngeldanspruch besteht.“ Mit dem Heiße-Kartoffel-Spiel, bei dem Menschen von Behörde zu Behörde geschickt werden, wäre damit Schluss. Das ist nicht weniger als der lang ersehnte Bruch mit dem Prinzip des Forderns dessen, dass derjenige, der Hilfe braucht, schon wissen muss, welche Hilfe er braucht, woher er die Hilfe bekommt und wie er sich die Hilfe holen kann. Denn in diesem Punkt bricht die Praxis ja bislang mit der theoretischen Solidarität. Betroffene verdienen einen Rechtsanspruch auf umfassende Beratung und Begleitung zentral an derjenigen Stelle, die als erstes für sie zuständig ist.

Doch natürlich spielt die konkrete Ausgestaltung der Sozialleitungen eine noch wichtigere Rolle. Hartz IV muss überwunden werden, denn - Nahles: „So korrigieren wir die Sichtweise, die wir vor 16 Jahren eingenommen haben, als noch Massenarbeitslosigkeit herrschte. Damals haben unsere Leute ein System aufgebaut, das vor allem auf die Vermeidung von Missbrauch ausgerichtet war und in dem Druck, Misstrauen und Kontrolle eine viel zu große Rolle spielten. Die Folge ist, dass sich Bezieher von Sozialleistungen bis heute viel zu oft als Bittsteller fühlen, obwohl sie einen Rechtsanspruch auf die Leistungen haben.“ Beim neuen Bürgergeld, das die SPD als Alternative zu Hartz IV vorschlägt, soll die Absicherung langfristiger, respektvoller und konstruktiver gelingen. Das sind wichtige Grundsätze.

Langfristiger: „Wer bisher aus dem Bezug von Arbeitslosengeld I fällt, bekommt sofort die volle Härte der Grundsicherung zu spüren: von der Anrechnung seines Vermögens bis hin zu der Frage, ob seine Wohnung womöglich ein paar Quadratmeter zu groß ist. Mit dem Bürgergeld wollen wir deshalb eine zweijährige Übergangsphase einführen. Da soll zum Beispiel die Angemessenheit der Wohnung grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden. Die Betroffenen brauchen ihre Kraft, um einen neuen Job zu finden, nicht eine neue Wohnung. In dieser Zeit sollen die Menschen in ihren Wohnungen bleiben können.“ Außerdem soll die Bezugsdauer des Arbeitslosengeld I auf bis zu 33 Monate ausgedehnt werden, so dass mit der Übergangs- und der Qualifizierungsphase fünf Jahre bis zum endgültigen Wechsel in die reine Grundsicherung vergehen. In dieser Zeit sollen die Betroffen bestmöglich - durch Qualifizierung, Vermittlung und auch neue Arbeitsformen - eine neue Tätigkeit finden, weil Arbeit eben auch gelebte Teilhabe, also ein gutes Ziel ist.

Respektvoller: „Bislang bekommen die Leute Geld vom Regelsatz abgezogen, weil ihre Wohnung etwas zu groß ist, und dann müssen sie für das tägliche Brot zur Tafel rennen. Damit muss Schluss sein. Wir wollen aber, dass die Leute dann schon nicht mehr auf Hilfe angewiesen sind, darum geht es! Wenn es dennoch der Fall ist werden wir auch dafür sinnvolle Regeln finden, der Perspektivwechsel den wir brauchen gilt für alle Bereiche. Niemand soll seine vier Wände verlassen müssen.“ Zudem soll die Zuständigkeit derjenigen, die ihr Gehalt mit Hartz IV aktuell aufstocken, nicht mehr im Jobcenter, sondern von der Arbeitsagentur betreut werden.

Konstruktiver: „Wir führen wir einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung für alle ein, die länger als drei Monate arbeitslos sind. Das kann eine Kurzfristqualifizierung wie ein Gabelstaplerführerschein sein, aber auch eine richtige Umschulung. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld I bleibt erhalten. Im besten Fall wird er aber gar nicht benötigt - weil die Qualifizierung zu einem neuen Arbeitsplatz geführt hat.“ Zudem sollen das Schonvermögen erhöht, die bisherige Arbeitszeit und das eigene Lebensalter besser berücksichtigt werden, so dass sich eine große Zielorientiertheit der neuen Partner*innenschaft zwischen Staat und Bürger*in ergibt.

Doch wichtige Grundsätze allein machen noch keine grundlegend gute Beschlusslage. Darum will ich nicht verhehlen, dass ich an der bisherigen Konzeption auch zwei Kritikpunkte habe, die ich - wie viele weitere junge und progressive Kräfte in der SPD - mit großer Leidenschaft in die parteiinterne Debatte tragen werde.

Andrea Nahles sagt: „Unsinnige Sanktionen müssen weg. Wenn Sanktionen nichts nützen, sondern nur neue Probleme schaffen, sind sie unsinnig. Das gilt für die verschärften Sanktionen für unter 25-Jährige, die nur dazu führen, dass der Staat den Kontakt zu diesen Menschen komplett verliert. Sanktionen dürfen auch nie zu 100-Prozent-Streichungen von finanziellen Mitteln führen, die Kosten für Wohnraum etwa sollte der Staat garantieren. Sanktionen die Obdachlosigkeit zur Folge haben, werden wir abschaffen.“ Doch das ist mir nicht genug. Es ist nur gerecht, dass altersdiskriminierende Sanktionen - und nichts anderes sind besonders schwere Sanktionierungen explizit und ausschließlich für #diesejungenLeute - endlich abgeschafft werden. Doch ist es nun einmal generell falsch, Kürzungen beim Existenzminimum als Strafe zu verhängen. Ich fordere deswegen, dass zumindest das finale Bürgergeld als sanktionsfreie Grundsicherung ausgezahlt werden muss.

Mein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die Höhe der Regelsätze, die Andrea Nahles nicht nach oben korrigieren möchte. Ich begrüße allerdings, dass sie statt Darlehen zu gewähren künftig wieder Härtefall-Regelungen einführen möchte, wenn die Waschmaschine oder der Fernseher kaputt geht. Das ist nur gerecht, weil das Leben ein Existenzminimum bislang zu sehr an die Substanz geht. Jedoch bedarf es darüber hinaus meiner Meinung nach auch eine klare Erhöhung der Regelsätze - Und zwar mindestens auf Höhe des sozio-kulturellen Existenzminimums. Das hieße, dass neben den Kosten für Kleidung, Wohnraum und Essen auch Ausgaben für das Essen gehen mit Freund*innen, der Besuch in Stadion und Theater oder auch Raum für Hobbys vom Taubenzüchter*innenverein bis zur Musikschule einkalkuliert werden. Denn gesellschaftliche Teilhabe in unserer Gesellschaft muss allen immer offen stehen! Die Höhe des sozio-kulturellen Existenzminimums sollte nach der politischen Anpassung anschließend - ähnlich wie beim Mindestlohn - von einer Kommission bewertet und gegebenenfalls - unter anderem der Inflation entsprechend - korrigiert werden.

Übrigens: Die Vorschläge, die die SPD-Parteivorsitzende gemacht hat, sind - und sie wäre es auch unter der Annahme, meine Erweitungsvorschläge würden übernommen - gut finanzierbar: „Unser Ziel ist es ja, die Menschen schneller als bisher aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen. Immer wenn das gelingt, ist das auch für den Steuerzahler gut. Die Qualifizierungsmaßnahmen und der längere Bezug von Arbeitslosengeld I verursachen natürlich Kosten, aber die werden von der Arbeitslosenversicherung finanziert. Deren Kassen sind voll, das Geld ist da. Der Umbau des Hartz-IV-Systems in ein Bürgergeld kostet nicht viel. Das Ganze wird sicher nicht am Geld scheitern.“

Und es wird - das zeigen die aktuellen Diskussion in der und um die SPD herum - politisch auch richtig flankiert werden: Mit dem sozialen Arbeitsmarkt und dem solidarischen Grundeinkommen schaffen wir das Recht auf Arbeit, die Forderung nach einer einmaligen politischen Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro und die Bekämpfung von prekärer Beschäftigung und Leiharbeit durch die Stärkung von Tarifbindung und strengere politische Reglementierung sowie die Rufe nach einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich sind inzwischen unüberhörbar. Hinzu kommen sinnvolle Initiativen wie die Grundrente und der Rechtsanspruch auf Home Office, der die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern würde. Mir persönlich wäre abschließend noch ein landespolitisches Thema wichtig: Die Einführung der einen Schule für alle Kinder, um den bestehenden Bildungsklassismus zu überwinden.

Wie Andrea Nahles bin ich ob der Umsetzbarkeit in der bestehenden Regierungskonstellation geboten skeptisch: „Ich will mit CDU und CSU ausloten, welche Vorschläge schnell Regierungshandeln werden können. Bei einigen Punkten bin ich optimistisch, etwa beim Wechsel der Aufstocker in den Zuständigkeitsbereich der Arbeitsagentur. Andere Dinge werden mit der Union schwer, ich kenne die ja schon eine Weile.“ Ich würde sagen: Wir kennen die jetzt lange genug und müssen für die meisten dieser Vorhaben wohl schauen, dass wir uns - um im Paar-Duktus zu bleiben - auch mal wieder mit anderen treffen. Inhaltlich wären neue, linkere Bündnisse so in jedem Fall realistisch. Und auch deswegen ist es gut, dass die SPD erkennbar nach links rückt und damit verbunden wieder für eine kraftvollere statt lediglich kurskorrigierende Politik eintritt. Das ist im übrigen dann auch die richtige Antwort auf den Rechtsruck in der Gesellschaft. Vor allem aber ist es ein gutes Angebot für eine gerechteren Zukunft - Mit Teilhabe, ohne Armut. Eine sozialpolitische Trendwende, eben.

Doch manches bleibt dabei auch beim Alten - Für die SPD zum Beispiel gilt: Mit uns zieht die neue Zeit!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Bühlbecker

Jan Bühlbecker. Slam Poet, Jungsozialist & Sozialdemokrat. Liebt Queer-Feminismus, Fußball, das Existenzrecht Israels & Hashtags.

Jan Bühlbecker

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