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Zeugen Jehovas Im Herbst erschien Misha Anouks Buch "Goodbye, Jehova". Es behandelt kein einfaches Thema, sondern seinen Ausstieg bei den Zeugen Jehovas mit allen Folgen. Ein Lese-Tipp.

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http://www.jwfacts.com/images/awake-1994-May-22-cover-blood.gifWas haben die Kinder dort auf dem Foto links gemeinsam? Sie sind jung, stimmt. Sie gucken freundlich, ja. Sie scheinen, der Überschrift nach, religiös zu sein, mag sein. Aber diese 25 Kinder und Jugendliche haben noch etwas gemeinsam: Sie sind alle seit über 20 Jahren tot!

Und sie waren auch schon tot, als sie das Zeugen-Jehovas-Magazin-Erwachet im Jahr 1994 auf den Titel nahm. Ihr Tod ist der Grund warum es die Kinder auf´s Cover geschafft haben. Sie starben nämlich allesamt bei Operationen, weil sie – Oder ihre Eltern – Bluttransfusionen, die bei den Zeugen Jehovas verboten sind, ablehnten. Sie verbluteten also auf dem OP-Tisch, weil sie, so suggeriert es zumindest der Titel, Gott den Vorzug gaben. Klingt ganz schön krass? Für Misha Anouk war das Realität. In seinem Buch "Googbye, Jehova", Untertitel: "Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ", erzählt er von den ersten zwanzig Jahren seines Lebens - Bei den Zeugen Jehovas. Und hier erzähle ich, warum ich dieses Buch im Detail für absolut lesenswert halte. Also immer der Reihe nach:

Anouk, den man heute als Geschichtenerzähler, Buchautor und Poetry Slammer kennt, wurde in eine Zeugen-Familie, seit seinen Großeltern gehörte die Familie der "Sekte" an und damit in “die Wahrheit” hineingeboren. Er wuchs die ersten 21. Jahre seines Lebens bei den Zeugen Jehovas auf, war ein normaler Zeuge und wurde schließlich im Jahr 1994 operiert. In der Nachbarstadt, weil seinen Eltern im lokalen Krankenhaus kein Arzt versprechen wollte im Falle von Komplikationen (die bei der Mandel-OP, welche beim damals 13-jährigen Anouk anstand zugegebene recht unwahrscheinlich waren) auf Bluttransfusionen zu verzichten. So blieb ihm die gezeigte Erwachet-Ausgabe in Erinnerung. Doch nicht nur davon erzählt Anouk in seinem Buch, er berichtet aus dem ganz normalen Alltag der Zeugen Jehovas, aus dem Missionar-Dienst zum Beispiel oder vom allgegenwärtigen Sexismus, der Homophonie. Der heute 31-jährige erinnert sich auch an die Weihnachtsabende, die man irgendwie überbrücken musste, weil man ja kein Weihnachten feiern durfte, weil der 25.12. wohl nicht wirklich Jesu Geburtstag war.

Warum Anouk das 21 Jahre lang mitgemacht hat? “Ich habe den Spruch, wer einmal lügt, den glaubt man nicht wohl in meiner kindlichen Naivität in, wer einmal die Wahrheit sagt, dem glaubt man” umgewandelt, erinnert er sich. Und seine Eltern hatten einmal die Wahrheit gesagt: Den Weihnachtsmann, den gibt es gar nicht. Sie haben dem Kind gesagt, dass sie ihn nicht anlügen, das schaffte wohl vertrauen, auch in die anderen Äußerungen, den Glauben der Eltern. Außerdem waren Zweifel unerwünscht, nicht zugelassen, wenn etwas nicht passte, dann lag es an einem selbst: "Vielleicht hatte man zu wenig gebetet, nicht fest genug geglaubt" - Blickte er in Folge der Veröffentlichung u.a. auch in der NDR-Talkshow auf diese Zeit zurück. Daran, dass da in seinem Umfeld etwas nicht stimmen konnte, war nicht zu denken. Auch zum Zeitpunkt, als er die Gemeinschaft verließ, war er noch glübig: "Ich dachte, dass ich nun in Hamagedon sterben würde. Aber das war mir egal. Ich konnte einfach nicht mehr."

Der Autor schildert in seinem Buch, in dem er seinen Leser duzt und direkt anspricht, seine Erinnerung, er macht die Grundsätze der Zeugen Jehovas, die er mit Zitaten aus der Wachturmgesellschaft stützt, so zugänglicher, sagt aber auch: “Ich mache meinen Eltern keinen Vorwurf” und “ich kann nur meine Version der Geschichte erzählen, eine Meinung musst du dir selber bilden.” Anouk erzählt aber keineswegs sachlich, er erzählt emotional, persönlich, manchmal auch zynisch, aber ohne dabei – Und das ist ganz wichtig – Tatsachen zu verdrehen.

In diesem Ton berichtet er davon, dass er nicht mit auf Klassenfahrten durfte. Er beschreibt den strengen, strukturierten Alltag mit Bibelstudien, Missionarsdiensten ("Der Horror! Wenn du mir mal nicht die Tür geöffnet hast - Vielen Dank!"), Zusammenkünften, redet von Kongressen, den steigenden Erwartungen, der eigenen Verantwortung und auch davon, dass er eigentlich - wie jeder Junge - doch nur ein Mädchen kennen lernen wollte. Er berichtet von einem Plüschbären, den er zur Selbstbefriedigung benutzt hat, um nicht 'selbst Hand an zu legen'. Er beschreibt eine Autofahrt nach einer Partynacht mit anderen jugendlichen Zeugen Jehovas bei der auf Sicherheit nicht allzu viel Wert gelegt wurde, die anderen sagten schließlich: "Wir haben doch die Auferstehungshoffnung." Er beschreibt, dass ihm das Halt gegeben hat, dass er aber auch nach seinem Platz gesucht hat und dass er noch einige andere daran hat zerbrechen sehen.

Und dann spricht er davon, warum er die Zeugen Jehovas verlassen hat: Er hatte unehelichen Geschlechtsverkehr. Bewusst, weil er dachte, dass es für seine Eltern einfacher wäre, wenn ihm die Gemeinschaft entzogen würde, als wenn er wirklich ganz von selber geht. Ob er dazu die notwendige Kraft gehabt hätte? Keine Ahnung. Also stellte er sich den Rechtskomittee und bereute nicht. Dementsprechend - Im oben verlinkten Video erklärt er das sehr anschaulich - wurde er ausgeschlossen. Misha Anouk spricht das tabulos an. Und redet auch über Dinge, die ein einfacher Zeuge Jehovas eigentlich gar nicht wissen sollte.

Das schlägt Wellen: In vielen Talkshows war er mittlerweile zu Gast, auf seiner Facebook-Seite diskutieren viele mit. Es muss eine Bestätigung für Mischa Anouk sein, zumindest der Beweis, dass sein Buch notwendig war: Es liefert einen wertvollen Beitrag zur Meinungsbildung, es sorgt dafür, dass sich immer mehr Menschen mit den Zeugen Jehovas auseinander setzten und mehr erfahren wollen, als Klischees und Vorurteile, ja sogar noch mehr, als in seinem Buch steht. Heute betreibt er eine Aussteiger-Plattform und setzt sich intensiv mit seiner Vergangenheit auseinander: Vor kurzem entschuldigte er sich beispielsweise für homophobe Äußerungen, die ihm während seiner Zeit bei den Zeugen Jehovas über die Lippen gekommen waren.

Aber noch einmal zurück zu seiner Geschichte: Anouk wurde vor über 10 Jahren ausgeschlossen, er hatte vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt und diesen nicht bereut. Heute sagt er, dass er so seinen Ausschluss provoziert habe, um raus aus den Zeugen Jehovas zu kommen aber ohne seinen Eltern zu schaden. Die Zeit nach dem Ausschluss sei, weil er fast jeden sozialen Kontakt – Man hat u.a. aus zeitlichen Gründen kaum soziale Kontakte außerhalb der Zeugen Jehovas – verlor, die schwierigste seines Lebens gewesen, Drogenprobleme und Einsamkeit inklusive. Daher sein Rat: "Ich würde jedem raten, der aussteigen will, sich von Anfang an profesionelle Hilfe zu holen!"

Denn langfristig gesehen hat Misha Anouk gewonnen: Und zwar seine Freiheit, so kitschig das klingt, die hat er heute, denn: "Die Zeugen Jehovas verlangen zwar kein Geld, wir sind hier nicht bei Scientology, sie kontrollieren einen nur und was man ihnen anstelle des Geldes opfere, steht in Absatz 1; 2 des Grundgesetztes." Eben die besagte Freiheit. Und das macht diese Gruppe vielleicht umso gefährlicher.

Absolut lesenswert, weil anschaulich, direkt und authentisch. Gut, weil fair und belegt. Verschlingbar, weil gut geschrieben und einfach interesannt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Bühlbecker

Jan Bühlbecker. Slam Poet, Jungsozialist & Sozialdemokrat. Liebt Queer-Feminismus, Fußball, das Existenzrecht Israels & Hashtags.

Jan Bühlbecker

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