Wagt die Selbstzerfleischung

#SPDerneuern Die SPD steckt in einer Krise und sie ist dabei, viele Fehler zu wiederholen. Dabei lehren der Blick auf ihre Erfahrungen und der Blick durch Europa wie es besser ginge

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Wie bisher kann es nicht weitergehen. Sonst ist die Luft bald ganz raus. Stattdessen braucht es frischen Wind und langen Atem
Wie bisher kann es nicht weitergehen. Sonst ist die Luft bald ganz raus. Stattdessen braucht es frischen Wind und langen Atem

Foto: Ronny Hartmann/Getty Images

Um es vorweg zu nehmen: Es folgt eine Fundamentalkritik - An der Politik der letzten 20 Jahren, am Erneuerungsprozess und an der aktuellen GroKo-Orientierung. Der folgende Text erhebt in seiner Aufzählung und mit seinen Beispielen ganz sicher keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aber er will eine Diskussion lostreten oder die bestehende zumindest ein bisschen beeinflussen. Und sein Autor wünscht eine sinnstiftende Lektüre. Glückauf!

Sozialdemokrat*innen haben immer gewusst, wo sie herkommen und wo sie hin wollen. Darin historische Errungenschaften der SPD aufzuzählen, überbieten sich gerade viele, wenn es um die Verantwortungsbereitschaft dieser Partei geht. Dabei vergessen sie manchmal, dass gesellschaftliche Analysen essentiell für das politische Handeln von Sozialdemokrat*innen ist: Wie geht es den Menschen, wo werden welche Gruppen benachteiligt, wo gibt es keine Chancengleichheit, warum ist das so und wie können wir das überwinden? Denn aus diesem Bewusstsein ergibt sich die Antwort auf die Frage, wo wir mit diesem Land und dieser Gesellschaft hinwollen. Und so ist es zu erklären, dass unser gemeinsames Ziel, der demokratische Sozialismus, zuletzt weniger mit Leben gefüllt war als es nötig wäre, um die Meinungsführer*innenschaft zurückzugewinnen.

„Man hat auf der Höhe der Zeit zu sein, wenn gutes bewirkt werden soll!“

Der Ehrenvorsitzende der SPD, Willy Brandt, schrieb in seinem Grußwort zur Konferenz der Sozialistischen Internationalen wenige Wochen vor seinen Tod: „Unsere Zeit aber steckt, wie kaum eine andere zuvor, voller Möglichkeiten zum Guten wie zum Bösen. Nichts kommt von selbst und nur wenig ist von Dauer. Darum besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass man auf der Höhe der Zeit zu sein hat, wenn gutes bewirkt werden soll.“ Bis heute werden diese Worte in fast jedem Leitantrag fast jeder SPD-Gliederung zitiert, sie erwiesen sich als guter Leitfaden und das bis zum heutigen Tag. Dennoch sind die Worte Brandts nicht sicher von Fehlinterpretationen. Mit dem Schröder-Blair-Papier erklärten die damals als modernen Hoffnungsträger der europäischen Sozialdemokratie gesehenen Regierungschefs Tony Blair und Gerhard Schröder, den internationalen Wettbewerbsdruck, den sich die Nationalstaaten nicht entziehen könnten und dem sie sich folglich anpassen müssten, zum Axiom. Die Wurzel dieser für die Sozialdemokratie neue Positionierung lag einerseits sicherlich in der Notwendigkeit an Reformen, die ihrerseits wieder einerseits aus einer schwachen wirtschaftlichen Lage und andererseits aus einer hohen Arbeitslosigkeit resultierte, andererseits aber auch in einem neoliberalen Zeitgeist. Sicherlich ist auch eine Verkettung der Faktoren auszumachen.

In den anstehenden Sondierungsgesprächen mit der Union, in diesem Punkt insbesondere mit der CSU, wird sich die SPD erneut mit Zeitgeistkonformen-Forderungen konfrontiert sehen, die eigentlich nicht zum sozialdemokratischen Profil passen. Dabei wird es von weitreichender Bedeutung sein, ob die SPD den Fehler des Aussetzens des Familiennachzugs für in Deutschland anerkannte Asylbewerber*innen wiederholt oder schlimmernoch einer „atmender Deckel“ genannter Obergrenze zustimmt. Der Zeitgeist hat sich in den letzten 15 Jahren gewandelt, er ist nach rechts gerückt, die These, dass die Antwort auf neoliberal also entweder klar links oder deutlich rechts seien wird, scheint sich in historischer Dimension zu bestätigen. Eine SPD, die die Hörigkeit des Zeitgeistes zum ihrerseits zum Axiom erklärt, verdient die Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie nicht. Es braucht nun also besonders dringend eine sozialdemokratische Partei, die versucht, den Zeitgeist zu verändern statt ihm zu folgen und damit die eingangs zitierten Worte Willy Brandts wieder so interpretiert, wie es der Vater der Entspannungspolitik mit eben dieser selbst vormachte. Zu beiden Punkten passt als Randbemerkung auch die Frage, inwiefern die SPD dies in jedem Fall, mit einem Teilhabe- und Aufstiegsversprechen, welches sie immerzu geben muss, vereinbaren kann.

Auf Menschen hören - Nicht auf Umfragen

Das Ziel, den Zeitgeist zu verändern ist eine visionäre Version Sigmar Gabriels Ausspruchs, Wahlen würden in der Mitte gewonnen, welcher, in dieser Interpretation, auch nicht verkehrt gewesen ist. Falsch interpretiert ist dieser Satz jedoch, wenn man sich, um Wahlen zu gewinnen, daran orientiert, was die Mitte gerade denkt oder was Umfragen hierüber suggerieren. Ich will es nie wieder erleben, dass ein SPD-Kanzlerkandidat, der sagt, die Idee eines geeinten Europas habe er sein gesamtes politisches Leben gewidmet, im Wahlkampf nicht von Europa spricht. Ebensowenig braucht die SPD in Wahlkämpfen Morgenrunden im Stile des Generalsekretärs, der für die beiden historisch schlechtesten Wahlergebnisse unserer Partei verantwortlich ist. Die inhaltliche Kampangenfähigkeit macht sich daran fest, ob man in der Lage ist, Menschen von sich zu überzeugen, ohne ihnen hinterherzulaufen. Weitere Aspekte der Kampangenfähigkeit sind personelle Möglichkeiten und Organisation - Auch nichts, was man durch das Rezitieren des ARD Deutschlandtrendes beeinflussen könnte.

Das heißt ausdrücklich nicht, dass die Stimmung im Land beziehungsweise sachfragenbezogene Umfragen keine Orientierung geben könnten. Jedoch muss bei der Ausrichtung der SPD gelten: Wir machen, was unsere tiefste sozialdemokratische Überzeugung ist, wir entwickeln pragmatische Vorschläge in diesem Geiste und in einer geschlossenen Erzählung moderne und progressive Wege zum demokratischen Sozialismus.
Denn auf all diese Punkte kann dieser nach wie vor die richtigen Antworten liefern. Denn „demokratischen Sozialismus verstehen wir als die dauernde Aufgabe Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren. Dies und die Solidarität sind der geistig, politische Boden auf dem allein die Sozialdemokratie gedeihen kann“, wie Willy Brandt erklärte.

Dabei ist aufschlussreich, was die aktuelle zu bestimmten Themenkomplexen ist, um Anknüpfungspunkte zum eigenen Programm zu schaffen. Ein Beispiel: Auf das aktuell für viele Menschen vordergründige Bedürfnis nach Sicherheit reagiert der ehemalige SPD-Bundesvorsitzende und Bundesaußenminister Sigmar Gabriel mit dem Aufgreifen der Leitkultur-Debatte. Wie aber passt das mit dem von Martin Schulz avisierten Ziel der Vereinigten Staaten von Europa zusammen? Die ernüchternde Bilanz: Gar nicht. Genauso verhält es sich vom Widerspruch zwischen der Äußerung Gabrieles, die SPD hätte mehr für Vorratsdatenspeicherung und weniger bürger*liche Freiheiten streiten müssen. Die SPD muss auf das Bedürfnis nach Sicherheit mit konkreten Vorschlägen zum Ausbau der sozialen Sicherheit, zur Stärkung der Polizei und zum Erreichen globaler Gerechtigkeit (beispielsweise über die Vereinigten Staaten von Europa) reagieren; statt über Heimat zu schwadronieren und damit alle die zu bestärken, die sich nach rechts orientieren, eine geschlossene linke Erzählung zu liefern.

Apropos: Andrea Nahles hat beim Juso-Bundeskongress einen sehr wichtigen Satz gesagt: „Es reicht nicht, für jedes Klientel eine schöne Forderung aufzustellen und die aneinander zu reihen, wenn man keinen roten Faden hat, der diese verbindet!“ Im aktuellen SPD Grundsatzprogramm, dem Hamburger Programm, reden wir kaum über Globalisierung, zu wenig über Teilhabe- und Arbeitsperspektiven in der Automatisierung und eigentlich gar nicht über Digitalisierung. Gerade letzteres ist dramatisch. Die Digitalisierung verändert unsere Demokratie, sie internationalisiert unsere Gesellschaft und verändert die Wirtschaft. Das ist das entscheidende Thema unserer Zeit - Und wir sind eigentlich schon viel zu spät dran: Die Kommunikation ist über Facebook, Twitter und Google bereits weitestgehend privatisiert, Arbeiter*innenfreundliche Arbeitszeiten durch Amazon und Co. längst Geschichte und BigData im vollen Gange. Es braucht schleunigst sozialdemokratische Konzepte, um die Demokratie zu verteidigen und Gerechtigkeit möglich zu halten. Dieses Thema ist sehr komplex und schafft es deswegen kaum in die breite gesellschaftliche Debatte - Wir müssen also nicht nur Wege finden, Themenumfragen zu unseren Gunsten zu verändern, sondern auch Themen umfragerelevant zu machen. Es ist die ureigene Aufgabe der Sozialdemokratie, die Gesellschaft und insbesondere die, die benachteiligt sind, zu politisieren, um sie so zu befähigen, etwas an ihrem gesellschaftlichen sein zu verändern. Und Bebel, Luxenburg, Wels und Brandt hätten sich dabei ja auch nicht von Balkendiagramme aufhalten lassen.

Wagt die Selbstzerfleischung!

Aber dafür muss die SPD Vertrauen zurückgewinnen. In der Partei ist in diesem Zusammenhang schon oft über die - auch in diesem Text bereits kritisierte - Agenda-Politik gestritten worden. Zwei Erkenntnisse scheinen in diesem Zusammenhang Konsens zu sein: 1. Nicht alles an der Agenda war gut - Was genau gut war, was eher mittel und was schlecht, ist dabei jedoch zweitrangig, denn es gibt ja jetzt den Mindestlohn und überhaupt: 2. Ist jetzt aber auch wirklich oft genug über die Agenda-Politik gesprochen worden. Doch wenn die SPD ernsthaft Vertrauen zurückgewinnen will, muss dieser Konsens schleunigst fallen. Die Agenda-Politik hat für vielen Menschen das gesellschaftliche Teilhabe-Versprechen gebrochen und mit diesem ihr Verhältnis zur SPD. Sie ist schließlich mehr als Hartz IV, welches ohne Konzepte wie den Sozialarbeitsmarkt schlichtweg und uneingeschränkt ungerecht ist, sie ist auch verantwortlich für einen viel zu großen Niedriglohnsektor und für das Ausufern von Leih- und Zeitarbeit. Damit ist sie die Wurzel von vielem, was in diesem Land nicht gerecht ist - Auch wenn ihr auf der Gegenseite viele positiven Entwicklungen, die in diesem Text ebenfalls bereits genannt wurden, gegenüberstehen.

Zur notwendigen programmatischen Aufarbeitung gehört aber auch das Thema Rente. Die Schwächung der gesetzlichen Rente zu Gunsten der privaten Altersvorsorge und die zwischenzeitliche Einführung der Rente mit 67 stehen wie das Rentenkonzept aus dem zurückliegenden Bundestagswahlkampf exemplarisch für die aktuellen Fehlentwicklungen unserer Partei. Es mag sein, dass all diese Maßnahmen oder Vorhaben ausgezeichnet durchkalkuliert waren und damit wirtschaftlich valide, was im Themenkomplex Rente in Anbetracht der demographischen Entwicklung in der Tat eine nicht zu unterschätzende Leistung ist, jedoch gingen sie mehr zu Lasten der vielen denn der wenigen in unserer Gesellschaft. Es darf für die SPD nicht hinzunehmen sein, dass es in Deutschland Altersarmut gibt - auch nicht, wenn die Erwerbsbiographie des betreffenden Menschen brüchig ist. Überspitzt gesagt: Die wirtschaftliche Validität des Rentenniveau 48% darf der SPD nie wieder wichtiger sein als der Kampf gegen Altersarmut! Das heißt natürlich nicht, dass unsere Partei in Zukunft weniger intensiv nachdenken soll, es heißt im Gegenteil, dass sie kämpferischer werden muss, wenn es um die Stärkung der gesetzlichen Rente von der die vielen statt der wenigen profitieren geht. Stichwörter: Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer sowie insbesondere bei Unternehmen Paradise Papers und europäische Steuerkonzepte.

Hinzu kommt, dass wir mit der Union das Thema Bildung nicht fortschrittlich behandeln können. Bildung muss vom ersten bis zum letzten Moment des Lebens gebührenfrei sein und wir müssen jedem und jeder die individuell beste Bildung zur Verfügung stellen: ausreichende KiTa-Plätze, die Abschaffung des Kooperationsverbotes für starke Ganztagsschulen, Schulsozialarbeit, kostenlose Meisterlehrgänge, kostenlose Studienplätze, kostenlose berufliche und persönliche Weiterbildung. Hinzu kommt, dass wir darüber reden müssen, wie wir Bildung besser machen. Dass das Bildungssystem so ungerecht ist, dass nur 8% der Arbeiterkinder einen Masterabschlussmachen, liegt nicht nur an der besseren Hausaufgabenbetreuung zuhause, es liegt auch an den Lehrplänen. Wir müssen die SPD auch zur Vorreiterin in der Bildungspolitik machen, weil das das beste Aufstiegsversprechen ist, das wir geben können.

Es mag sein, dass sich nicht alle, die in den letzten 20 Jahren in der SPD aufgestiegen sind, damit identifizieren können. Doch wir dürfen auch keine Angst davor haben, nicht jede*n mitnehmen zu können: Seit 1998 hat die SPD schließlich 40% ihrer Mitglieder - und längst nicht alle in der Vertikalen - verloren, Potenzial an Rückkehrer*innen und Neuzugängen bestünde insbesondere mit Blick auch auf die progressiven Kräfte in der Linkspartei und auf die Entwicklungen Anfang des Jahres als die Nominierung Martin Schulz’ und die damit verbundene Hoffnung auf einen neuen Aufbruch, viele Menschen in die unsere Partei führte.

Außerdem ist es, dass der inhaltliche Neuanfang auch nur in Kombination mit einer personellen Neuaufstellung glaubhaft seien kann. Trotz vier verlorener Bundestagswahlen in Serien ist dieser bislang in zu vielen Schlüsselpositionen ausgeblieben: Mit Frank-Walter Steinmeier gab bis zu seiner Wahl zum Bundespräsidenten der Architekt der Agenda-Politik in der SPD den Ton an, mit Thomas Oppermann sitzt ein langjähriger Bekannter Gerhard Schröders für die SPD im Bundestagspräsidium, mit Sigmar Gabriel war dessen Nachfolger als Ministerpräsident Niedersachsens nicht nur bis vor einem Jahr SPD-Bundesvorsitzender, nein, dieser ist bis heute geschäftsführender Bundesaußenminister. Der aktuelle Bundesvorsitzende Martin Schulz gehört seit der Kanzlerwahl Schröders 1998 dem SPD Präsidium an. Und die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles, die als Bundesvorsitzende der Jusos einst gegen Schröder und Franz Müntefering opponierte, hat sich deren Kurs als GroKo-Ministerin heute in vielen Punkten angepasst.

#SPDerneuern


Und auch Lars Klingbeil, der neue SPD-Generalsekretär und ehemalige Schröder-Mitarbeiter, knüpft unter anderem durch seine Nähe zur Waffenlobby an vieles an, was die SPD bei einem ernsthaften Erneuerungsprozess überwinden müsste. Generell scheint sich der Erneuerungsprozess an strukturelle Fragen orientieren zu wollen. Jedoch nicht an Fragen, wie man in die SPD in Bundesländern, in denen sie weniger als 2.000 Mitglieder hat, wiederbelebt, sondern eher an Themenforen. Viele Vorschläge der Initiative SPD++ sind dabei nicht falsch. Jedoch werden wir mit einer Fokussierung auf dieser Frage weder der politischen noch der strukturellen Krise der SPD gerecht. Denn zu glauben, wir gewinnen nur eine Stimme zurück, weil das Wahlprogramm nicht mehr nur vom Parteivorstand sondern auch von digitalen Diskutant*innen, ist ähnlich naiv wie unsere aktuelle Umfragenorientheit. Und nein, beide Ernerungsprozesse funktionieren nicht gleichzeitig und ja, sie werden gerade gegeneinander ausgespielt – auch von denen, die regelmäßig beteuern, das nicht zu tun.

Auch weil die digitale Erneuerung in Regierungsverantwortung eher zusammen funktioniert als die inhaltliche Erholung. Wir haben im Wahlkampf und in der Wahlanalyse richtigerweise erkannt, dass eine weitere große Koalition falsch wäre. Die inhaltlichen Schnittmengen mit der Union sind mehr als aufgebraucht, eine weitere Kompromiss-Koalition statt eines Überzeugungs-Bündnisses würde der Politisierung der Gesellschaft weiter schaden (wie jede Merkel-Regierung insgesamt) und eine weitere Koalition von CDU, CSU und SPD wäre auch der Polarisierung zwischen Progressiven und Konservativen abträglich, die Ränder und aus eingangs genannten Gründen der rechte Rand würden weiter zulegen. Welche Dramatik solche Entwicklungen gewinnen können, zeigt der Blick nach Österreich. Hinzu kommt, dass eine große Koalition der AfD die Oppositionsführung überlassen würde, ein Nebeneffekt, der dem Bollwerk-der-Demokratie-SPD unwürdig wäre.

Alternativen gebe es: Dass eine Minderheitsregierung auch stabil seien kann und Deutschland auch mit einer solchen in Europa verlässlich bleibe, hat die SPD während der Eurorettungspolitik zwischen 2009 und 2013 bewiesen. Eine Minderheitsregierung würde das Parlament stärken und sie hätte, wenn sie beispielsweise aus Union und Grünen bestünde, zwei Machtoptionen: Kenia und Jamaika. Eine Kooperationskoalition hingegen ließe nur der Union Spielräume, die SPD nach rechts zu überstimmen, wofür diese dann verantwortlich gemacht würde, da auch eine KoKo letztendlich als GroKo wahrgenommen würde. Außerdem zeigt der Glyphosath-Alleingang von Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt, wie das Vertrauensverhältnis in einem solchen Bündnis wäre. Ganz abgesehen davon, dass dieser Fall auch belegt, dass die notwendige sozialökologische Politik mit CDU und CSU gemeinsam nicht umzusetzen wäre.

Dabei wiederholen wir im übrigen – neben der desaströsen Außendarstellung – im aktuellen Prozess die Fehler von 2005 und 2013. Und das obwohl wir ständig betonen, eben dies nicht zu tun. 2013 sind wir beispielsweise mit der repräsentativen Forderung des Mindestlohns in die Gespräche mit der CDU und CSU gegangen, wohlwissend, dass eine Lohnuntergrenze durchaus etwas war, was dort längst nicht mehr so kritisch gesehen wurde und haben einen Mindestlohn mit Ausnahmen und auf einem Niveau, das nicht vor Altersarmut schützt, bekommen. Bei der Mietpreisbremse war es ähnlich. Nun fordern wir eine Bürgerversicherung. In Anbetracht der sich andeutenden Finanzierungslücke bei den privaten Krankenversicherungen ist auch dies etwas, was die Merkel-Union in zwei Jahren in abgespeckter Form mitmachen dürfte. Jedoch zeigt das Beispiel der Niederlange, das eine Bürgerversicherung weitreichend und radikal umgesetzt werden muss, wenn sie für die Mehrheit der Versicherten einen positiven Effekt haben soll.

Ein starken Mindestlohn, eine effektive Mietpreisbremse, ein echtes Chancenkonto und eine funktionierende Bürgerversicherung werden wir nicht mit der Union hinbekommen. Eine Mindestausbildungsvergütung, eine starke gesetzliche Rente, progressive Konzepte für die Digitalisierung statt stumpfen und langsamen Breitbandausbau, die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, und - obwohl der letzte Koalitionsvertrag das anders vorsah - das Rückkehrrecht aus Teil- in Vollzeit schon gar nicht. Wenn wir diesen Preis zu zahlen bereit sind, sollten wir wie unsere französische Schwesterpartei unseren Hauptsitz verkaufen, um für unsere Beerdigung zu sparen.

Aber wir dürfen die SPD in Anbetracht der genannten Herausforderungen - national wie international - nicht aufgeben. Es ist besorgniserregend, dass der Niedergang vieler sozialdemokratischer Parteien mit dem Erstarken der Rechtsextremist*innen und Faschist*innen einhergeht und es dokumentiert unsere Fehler. Doch vor allem ist ein Grund dieser Entwicklung entgegenzutreten, dass die Fragen der Zeit nicht national sondern nur international und damit progressiv beantwortet werden können - Dass das richtig ist, ist der Wind in unseren Segeln.

Dem Morgenrot entgegen

Ja, die Erneuerung der SPD wird über die inhaltliche Ausrichtung entschieden. Ja, die Erneuerung der SPD wird in der Opposition sein oder sie wird nicht sein. Und ja, wir brauchen, 50 Jahre nach der Linkswende der Jusos, eine Linkswende der SPD. Das alles ist keine Politik, die man von heute auf morgen umsetzen kann. Doch der Blick nach Portugal und nach Großbritannien zeigt, dass Sozialdemokrat*innen, wenn sie langfristige und groß gedachte Konzepte vorweisen können sowohl in der Opposition Vertrauen zurückgewinnen als auch dieses in Regierungsverantwortung verteidigen können.

Man muss dafür mutig sein - Und radikal. Aber wer wenn nicht die Partei, die den Kaiser überwunden, sich Hitler in den Weg gestellt und mit der neuen Ostpolitik langfristigen Frieden ermöglicht hat, sollte auch diese Hürde meistern?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Bühlbecker

Jan Bühlbecker. Slam Poet, Jungsozialist & Sozialdemokrat. Liebt Queer-Feminismus, Fußball, das Existenzrecht Israels & Hashtags.

Jan Bühlbecker

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