Ach Mensch, wem soll man glauben?

Die Zeit stürzt dem 18. September entgegen Drei Favoriten im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg

Omas Sammeltasse, Muttis alte Schuhe, Nippes aus dem Resteladen. Dazwischen liegt das "barbarisch schöne Leben" Rudi Dutschkes, aufgeschrieben von seinem Gretchen, daneben Nichts als die Wahrheit, verkündet von Dieter Bohlen und zwei Schritte weiter ein abgegriffenes Bürgerliches Gesetzbuch. Drei Welten auf einer karierten Decke. Eine vierte, die wirkliche, tobt ringsherum. Berlin-Kreuzberg - politischer Mythos und soziales Dilemma der Stadt. Widerstand und Krawalle, SO36-Kultur und Multi-Kulti, Bürgerinitiativen und Drogenszene.

Regina (48) hat ihren Mini-Trödelbasar am Paul-Lincke-Ufer aufgeschlagen. Wer zum türkischen Wochenmarkt am jenseitigen Maybach-Ufer will, bleibt vielleicht stehen und kauft. "Ich bin jetzt Hartz IV und wenn mein Portmonee leer ist, dann sitze ich eben hier." Für ein paar Euro mehr. Beobachtungen und Erkenntnisse hat sie gratis. Schließlich ist Wahlkampf. Unübersehbar: Christian Ströbele (Grüne) strahlt gewinnend, Cornelia Reinauer (Linke.PDS) lächelt optimistisch, Ahmet Iyidirli ( SPD) schaut gütig und ein wenig fragend.

Ob das Volk wieder mal aufsteht?

Präsenz per Plakat und immer öfter persönlich. Die Zeit stürzt auf den 18. September zu. Ab da soll alles anders werden. Besser für die kleinen Leute, sagen alle Kandidaten. Wenn man sie wählt. Im Kampf um die Erststimmen im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg stehen die Siegeschancen für jeden dieser drei Direktkandidaten noch ziemlich gleich. In manchen Positionen sind sie sich nah, Personen und Profile durchaus sympathisch und glaubwürdig. Das macht es dem Wähler nicht einfacher und das persönliche Wahlergebnis der Kandidaten ungewiss. Drei Favoriten. Jeder will gewinnen. Nur einer kann gewinnen. Einer wird gewinnen.

Wem soll man glauben? Ach, Mensch. Regina dreht sich eine Zigarette, sieht sich um. Na klar, wird sie wählen gehen, "das bin ich immer". Aber wem gibt sie ihre wertvolle Erststimme? "Vielleicht Ströbele. Der schwatzt nicht beliebig, interessiert sich für Minderheiten, geht zu den Leuten. Der ist besser als seine Partei." Die habe die Ansprüche ihres Anfangs "weg gebügelt". Oder die PDS-Frau. "Als linke Opposition könnten die ja die anderen Parteien aufmischen. Mehr Geld für Soziales und keinen Kniefall vor der Wirtschaft". Wie ihn die SPD gemacht habe. Das sei sicher ein Handicap für den SPD-Kandidaten, der es bestimmt ehrlich meine, wenn er von sozialen Reformen spreche.

Das tut er wahrscheinlich gerade. Ahmet Iyidirli steht am Maybach-Ufer, verteilt Flyer und redet mit türkischen Bürgern. Ein Heimspiel für den in der Türkei geborenen und seit 26 Jahren in Deutschland lebenden Volkswirt, der auch als Bundesvorsitzender der Türkischen Sozialdemokraten (HDF) hier bekannt ist. Erst nach heftigen Debatten wurde er von seinen Genossen nominiert, um die rund 10.000 türkisch stämmigen Wahlberechtigten im Bezirk zu mobilisieren. Iyidirli ist der Joker der SPD in Friedrichshain-Kreuzberg. Er soll sowohl den prominenten Ströbele als auch die kompetente Bezirksbürgermeisterin Reinauer schlagen. "Ich habe ein linkes Profil. Ich bin Sozialdemokrat", sagt er. Das ist mutig. Denn die als Reform etikettierte Rosskur nehmen viele Bürger den Sozialdemokraten übel. Genau genommen bringen ihm die Hartz-IV-Gesetze Stimmenverluste. Mit dem "sozialen Profil" ist es schwierig, ob Maybach-Ufer oder Boxhagener Platz in Friedrichshain. Er kennt die Armutsbiotope da wie dort. Der Mann kämpft trotzdem, und ein Termin jagt den anderen.

Sie bezeichnen sich als Loser. Frank (49), Jürgen (42) und Peter (60) trinken ein Bier und noch eins. Der eine hat "noch richtig Dreher gelernt", der andere war Dachdecker, der dritte Ökonom. "Die erzählen uns was von sozialer Marktwirtschaft und haben keine Ahnung, wie es geschrieben wird. Aber so ´ne Welle machen." Prost.

Frank hat demnächst einen Ein-Euro-Job, "das war früher mal ´ne richtige Arbeit". "Mann", sagt Peter, "das ist staatliche Schwarzarbeit. Davon kann kein Mensch leben." Frank ist trotzdem froh, dass er was zu tun hat. Aber wählen gehen? "Wer hat denn hier ´ne Wahl? Vielleicht der arbeitslose 25-Jährige oder der arbeitslose 60-Jährige?" Für sie spiele es doch keine Rolle, ob Schröder oder Merkel. "Na, die nun gar nicht." Nach mehreren Umschulungen, zuletzt zum Altenpfleger mit Null-Aussicht auf Arbeit, mit dem "Wir-Ossis-sind-beschissen-worden"-Gefühl hat Jürgen seine Politikerklärung entwickelt: "Vielleicht warten die darauf, dass das Volk wieder mal aufsteht und sie wegschüttelt." Er wählt die PDS.

Ost-West-Geschichten. Jeder zweite Kreuzberger ist arbeitslos, fast jeder dritte Türke bezieht ALG II. Hayat (39), früher Montiererin bei AEG, jetzt ALG II, will nicht viel vom Leben. Aber was sie will, ist zuviel, "einen Arbeitsplatz, dass die Mieten nicht steigen und die Steuern auch nicht." Sie wählt den, der ihr das verspricht, "vielleicht die SPD". Hayat hat Deutsch gelernt und erzieht ihre zwei Töchter zweisprachig. Keine Ausnahme, aber auch nicht die Regel in Kreuzberg. Dilan, ihre 15-jährige Tochter, möchte das Abitur machen und paukt für eine Zukunft, die ihre Mutter nicht mehr hat.

"Die Hölle ist überwindbar", haben Schüler der Hermann-Hesse-Oberschule an ihre Schulmauer gesprayt. Dort gibt es einen gemeinsamen Auftritt aller Kandidaten. Man grüßt sich freundlich und nickt zuweilen zustimmend, wenn der eine oder andere etwas sagt. Ein Schüler fragt, ob Bildung künftig nur für Reiche da ist, weil zu teuer. Iyidirli antwortet, dass Bildung eine öffentliche Aufgabe sei und deshalb gebührenfrei bleiben müsse. Am besten vom letzten Kita-Jahr bis zur Universität. Unbedingt. Reinauer nickt. Ströbele nickt. Grundsätzlich sind alle für mehr Investitionen in Schule und Bildung, für veränderte Strukturen, auch um Migrantenkindern bessere Chancen zu geben.

"Wir liegen dicht beieinander" sagt Ströbele, als Cornelia Reinauer von den verheerenden Folgen der Hartz IV-Gesetze für den Bezirk spricht. Die Bezirksbürgermeisterin weiß, wovon sie redet. Von den rund 320.000 Einwohnern in Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzlauer Berg Ost sind 26 Prozent arbeitslos und 59.176 beziehen derzeit ALG II.

Die Heuschrecke flüchtet zu Angela Merkel

Eye-Catcher des programmatischen Wahlplakates von Ströbele - wie 2002 wieder von Seyfried gezeichnet - ist ein überaus gängiger Spruch: Sozial, gerecht ist nicht zu teuer mit Ströbeles Vermögensteuer. Darunter seine Bibel, die Bürgerrechte, und vor dem legendären Fahrrad flüchtet eine Heuschrecke in Richtung Angela Merkel. Karl Marx guckt gelassen nach vorn. In die Zukunft? Das weiß keiner.

Cornelia Reinauer, deren Partei gerade die Kurve zur "freiwillig vereinigten Linken" nimmt, um auf gerader Strecke politisch Tempo machen zu können, hat dem grünen Konkurrenten schon mal gesagt, dass er gut in die Linkspartei passe. Und? "Er hat gelacht".

Christian Ströbele, der weiße Rabe in seiner Partei, holte 2002 in Friedrichshain-Kreuzberg das einzige Direktmandat der Grünen. Die Wähler honorierten seine Treue zu linken alternativen Positionen - ein so rares Verhalten, dass es mittlerweile zu einem Wert an sich geworden ist. Zumindest für die Bürger hier. Beim Straßenfest im Graefe-Kiez wird Ströbele mit Wählerzuspruch überschüttet: "Meine Stimme haben Sie ..." Trotzdem dürfte es eng werden. Auch für ihn entscheidet sich die Wahl im Osten. "Ob das gelingt, weiß ich nicht." Das weiß keiner der drei. Obwohl der Bezirk östlich der Spree sich bunt und alternativ in Szene-Ecken wie Simon-Dach- oder Rigaer Straße präsentiert, ist mit enttäuschten und kämpferischen Rentnern in der Karl-Marx-Allee zu rechnen, auch mit jungen Leuten, die gern die Wohnungen in der sozialistischen Prachtstraße beziehen, wenn sie sich die Westmieten leisten können.

Karl-Marx-Allee, Thälmann-Park und Hanns-Eisler-Straße - für Christian Ströbele vertrautes Terrain. Er hat Tausende Wahlbriefe gesteckt, ist manchmal zum Kaffee eingeladen worden, hat Geschichten aus der DDR gehört und von Lebensbrüchen nach der Wende. Für Ost und West will er "revolutionäre Korrekturen" bei Hartz IV durchsetzen.

Mit Korrekturen ist es für die Kandidatin der Linkspartei nicht getan. "Weg mit Hartz IV" fordert ihre Partei. Mit ihrer Vermutung, "dass das nicht so schnell gehen wird", schätzt Cornelia Reinauer die Machtverhältnisse im nächsten Bundestag realistisch ein. Also müsse nachgebessert werden, nicht zuletzt eine Anhebung der Grundsicherung auf 420 Euro. "Teilhabe am gesellschaftlichen Leben muss finanzierbar sein."

"Manchmal zerreißt es mich", sagt Cornelia Reinauer. Nach dem jüngsten Armutsbericht des Senats ist ihr Bezirk einer der ärmsten in Berlin - nicht ihre Schuld, aber ihr Problem als Bezirksbürgermeisterin. Die Kommunalpolitikerin ist geprägt vom Westberliner Widerstandsmilieu der achtziger Jahre, von ihrem Leben in Kreuzberg. "Wo Menschen keine Wahl mehr haben, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten, ist Demokratie am Ende." Hartz IV sei Ausdruck einer Misstrauenskultur, "die allen Bürgern Faulheit unterstellt". Stammtischparolen als Legitimation für Sozialabbau. Da bleibt ihr im Amt nicht viel Spielraum für Gestaltung, und der Erfolg macht kurze Schritte.

Plattenbau West an der Skalitzer Straße. Hier hat die Türkische Gemeinde ihren Sitz. Taciddin Yatkin, Präsident des Dachverbandes für etwa 50 Vereine, erwartet die Bürgermeisterin. Die Begrüßung ist herzlich. Alle kennen sich. Cornelia Reinauer ist nicht zum ersten Mal hier. "Sie ist eine von uns". Was nach liebenswürdigem Kompliment klingt, ist eine Erfahrung. Bei Tee und Gebäck ist das Wort Bürgerbeteiligung häufig zu hören. Damit bewirkten Reinauer und ihre Partner in der türkischen Community das Unglaubliche: Der 1. Mai 2005 in Kreuzberg war politisch und friedlich. Sie sprechen über Anti-Gewaltprojekte, Zwangsehen und einen möglichen Beitritt der Türkei in die EU. Sie sind sich einig beim Sprachunterricht für Migrantenkinder und deren Mütter. Integration vor Ort. "Ich möchte Vielfalt", sagt Cornelia Reinauer und verabschiedet sich auf Türkisch.


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