Grossdemo

500.000 Menschen gehen auf die Straße, um der Regierung ihren Unmut kund zu tun

Schade, dass Hannes Wader nicht singt, sagt eine junge Frau. Was hätten Sie denn gern gehört? "Dass nichts bleibt, wie es war." Ist das Ihre Hoffnung? Ja, immer. Anett G. ist Projektantin, wird demnächst 27 und jobbt sich so durch. Eine junge Frau mit Ängsten: jederzeit arbeitslos zu werden, den ganz neuen Freund zu verlieren, ein Kind zu wollen, aber sich nicht leisten zu können, Verzicht an allen Ecken. Deshalb sei sie hier. Sie will wenigstens das tun, was ihr möglich ist: Ihren Anspruch auf ein bisschen Sicherheit einfordern. Sie denkt dabei erst mal an sich und freut sich auf den Abend mit dem wankelmütigen Freund - "den kriege ich schon hin." Für ihre kleine Welt will sie kämpfen. Einige Meter weiter pustet ein Kind Seifenblasen in die Luft: Rosa glänzende Kullern. Sie zerplatzen.

Der Platz vorm Brandenburger Tor ist proppevoll. 250.000 Menschen sind am vergangenen Sonnabend zu der Demonstration gegen Sozialabbau allein nach Berlin gekommen, Köln, Stuttgart waren weitere Zentren des Kampfes für soziale Gerechtigkeit. Initiiert von sozialen Interessengruppen, attac und Gewerkschaften. Deutschlandweit sagten eine halbe Million Menschen Nein zur Politik der rot-grünen Regierung. Ein Stoppschild. "Ein klares Signal an die Herrschenden", ruft der DGB-Bundesvorsitzende Michael Sommer auf der Abschlusskundgebung in Berlin und versichert denen da oben und denen auf der Straße: "Wir bleiben dabei, auf Basis der Agenda 2010 gibt es keinen Schulterschluss." Die Leute am Brandenburger Tor stehen mit dem Rücken zum Reichstag. Eine Kopfdrehung und er gerät ins Blickfeld, Die Fahne weht. Keiner sieht hin. Er ist die Grotte der Polit-Aliens. Hier wird ausgebrütet und als Reform verkauft, was Millionen Bürger zur Verzweiflung bringt, zum Zorn, zum Widerstand.

Verächtlich deutet Susanne B. über ihre Schulter. "Eine Reaktion von denen? Nee." Richtungswechsel in der Politik heißt eine der allgemeinen Forderungen dieses Protesttages - und es bleibt abzuwarten, ob der Druck von unten ausreicht, um Veränderungen zu erzwingen. Susanne B., 43 Jahre, aus Freiberg in Sachsen, erlebt als Physiotherapeutin die Folgen der Gesundheitsreform. Weniger Überweisungen, weniger Patienten. Noch hat sie ihre Arbeit. Noch. Die Situation sei dramatisch. "Die werden weitermachen. Zu wirklichen Veränderungen in der Gesellschaft sind die nicht fähig. Bei den Wahlen 2006 ist Rot-Grün dann weg und die CDU übernimmt den faulen Apfel Deutschland." Manchmal denke sie, dieses Spiel mit wechselnden Polit-Statisten bei gleichbleibender Politik gegen die Interessen der Bürger sei ein raffiniert eingefädelter Coup zum Machterhalt. Das nennt sich parlamentarische Demokratie und "bei Wahlen dürfen wir mitspielen." Umso wichtiger sei der Protest auf der Straße und ja, "es gibt eine Pflicht zum Widerstand. Wenn die Würde des Menschen verletzt wird."

Ein Anti-Konflikt-Team schlängelt sich durch die Massen. Bis jetzt haben sie nichts zu tun. Sie hören den "Prinzen" zu, die gerade "Das alles ist Deutschland. Das alles sind wir" singen. Die Sonne scheint. Rote und grüne Luftballons mit kämpferischen Aufdrucken steigen auf. Am Rand sitzt ein Trupp junges Volk, sie halten Schilder mit der strikten Aufforderung "Schröder muss weg" fest. Ein oder zwei Euro das Stück. Paar Schritte weiter ändert sich die Szene. Auf der Ostseite des Brandenburger Tores schlendern Touristen, das Restaurant Tucher am Tor ist gut besucht, auch einige gewerkschaftliche Rotmützen machen eine Pause, dezent glänzt nebenan in goldener Schrift die Dresdner Bank und das noble Adlon ist zwar nur Meter, aber doch Meilen weg vom Protestgeschehen. Aus dem Auktionshaus Unter den Linden schmeichelt eine sonore Stimme um Gebote: "1.500 Euro. Unter Limit sind wir in jedem Fall. Nennen Sie Ihre Forderung. Wir prüfen unter Vorbehalt." An der nächsten Ecke sitzt einer, der schon lange unter Limit lebt: "Bin obdachlos, suche Arbeit". Das alles ist Deutschland. Wer hat, der kann.

Die sich gegen 10.00 Uhr auf dem Alexanderplatz zu einem der drei Berliner Protestzüge getroffen haben, können nur das Eine: Auf die Straße gehen. So oder so. Jetzt sind sie hier. Viele sind in Bussen angereist wie Werner B. und Georg G. Aus Wolmirstedt in Sachsen-Anhalt. Früh aufgestanden, um zur rechten Zeit da zu sein. Ihre Empörung über den Sozialbeschiss unter dem Deckmantel der Sachzwänge erhält immer wieder Futter, weil die SPD das üble Spiel mit der Agenda 2010 nach unten weiter reicht. Nie hätte Werner B. gedacht, dass die SPD solche kriminelle Politik mache. Aber, so hofft er, millionenfacher Protest ändert das. Schließlich "die DDR hat sich auch geändert". Naja, sagt sein Kumpel, die sei verschwunden. Und grinst. Sie trillern mit ihren Pfeifen und gehen los, um den Aufruf zum Generalstreik zu unterschreiben.

Walter Schröder arbeitet im Arbeitslosenverband Berlin mit. "Es ist schlimm. Die Leute kommen und wissen nicht mehr, wie es weiter gehen soll." Sie würden ins Elend gehetzt "wie bei einer Viehtreiberei". Zum Beispiel mit Verpflichtungen für Langzeitarbeitslose zur Zeitarbeit, egal wie niedrig die Löhne sind. Oder mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ab 2005 (Hartz III und IV). Dann werden Hunderttausende in die Armut stürzen. "Die müssten alle hier sein." Im Protestzug fordert ein Plakat: Bekämpft die Arbeitslosigkeit, nicht die Arbeitslosen. Auf einem Spruchband der Grünen Jugend steht: Neoliberale - raus aus den Grünen. Zuruf an die jungen Grünen: Eure Leute machen den Mist doch. "Deshalb sollen die ja raus. Wir sind die Zukunft." Die Umstehenden nicken Zustimmung. Kathrin, Sozialarbeiterin in Dresden, erzählt von ihrem Jugendhaus, das auch ein bisschen das Zuhause ist für junge Leute. Das steht nun alles auf der Kippe. In der Jugendhilfe soll gekürzt werden, "weil eine tolle Brücke gebaut werden soll. Ein Prestigeobjekt." Die Folge: Personalkürzungen. Damit würde die Arbeit im Jugendhaus stark reduziert, wahrscheinlich unmöglich werden. "Die Jugendlichen können dann sehen, wo sie bleiben. Auf der Straße." Kathrin ist wütend. "Deshalb bin ich hier, Ich muss was tun - wir müssen was tun." Je mehr Leute, desto mehr Druck. Noch glaubt sie daran, "dass wir auch was ändern können." Aber irgendwann ist Schluss.


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