Pariser Mai und Prager Frühling

DAS OST-DEFIZIT EINER BIZARREN WEST-DEBATTE Auch in der DDR gab es 68er - sie wurden zum bestimmenden Subjekt des kurzen Herbstes 1989

Das Märchen vom Fischer und seinem Klein hat uns unverhofft eine Debatte über die westdeutsche Linke beschert, die dem gewöhnlichen Ostler teils unverständlich, teils bizarr erscheinen muss. Der darin im Zentrum stehende unscharfe, kulturell und politisch aufgeladene Generationsbegriff von den 68ern entwickelt nur im Kontext zur jüngeren Geschichte Westdeutschlands seine geradezu mythische Ausstrahlung. Zur Beschreibung ostdeutscher Phänomene scheint er nicht zu taugen.

Und dennoch gab es natürlich auch in der DDR ab Mitte der sechziger Jahre politisierte Jugendliche, die einerseits Anleihen aus der westlichen Jugend- und Protestkultur nahmen, andererseits ihre politische Initiation selbst erlebten Konflikten verdankten, für die der spießige und repressive Alltag der DDR reichlich Anlass bot. Prägende Erfahrungen waren die rigide Kulturpolitik nach dem 11. Plenum der SED 1965 und die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Warschauer Pakt-Staaten. Im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung mit dem Establishment stand der Stalinismus, nicht aber der Nationalsozialismus, denn Antifaschismus und Antikapitalismus bildeten noch einen gemeinsamen Wertevorrat. Die Demokratisierung des Sozialismus galt als realistisches Ziel.

Zu einer politischen Bewegung vergleichbar der APO konnte es in der DDR indes nicht kommen. Die Staatsgewalt erstickte jede oppositionelle Regung im Keim. Flucht oder Ausreise, oft nach vorangegangener Haft, dezimierten das Personal und zerrissen Kontinuitäten. Die Daheimgebliebenen versammelten sich in mehr oder weniger konspirativen Diskussionszirkeln, rückten unter das schützende Dach der Kirche oder übten sich im künstlerischen Nonkonformismus, wenn sie nicht privatisiert das gleichförmige, angepasste Leben der Masse führen wollten oder Ausgleich in erfolgversprechenden Karrieren suchten. Aus diesen Elementen formte sich unter den Augen der allgegenwärtigen Staatssicherheit ein Generationstypus, der zwar keine Kulturrevolution zu Wege brachte, sich aber in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre - begünstigt durch die Reformpolitik in der Sowjetunion - zum bestimmenden Subjekt des kurzen Herbstes 1989 aufbaute.

Der Weg der 68er durch die westdeutsche Gesellschaft und die Entwicklung in Ostdeutschland sind auf verschlungene Weise verbunden. Das Führungspersonal der APO bestand zu einem beachtlichen Teil aus Leuten, die einschlägige DDR-Erfahrung hatten und in den fünfziger Jahren in den Westen gegangen waren. Auch unter den Theoretikern der "Neuen Linken" spielten kommunistische Dissidenten und aus der DDR gedrängte Wissenschaftler eine größere Rolle. Die antiautoritären, gegen den westdeutschen Staat und die vorherrschende Kultur der sechziger Jahre gerichteten Provokationen schienen besten Motiven und Absichten zu entspringen. Die Protestformen der 68er und ihre Entwürfe für eine alternative Lebensweise machten großen Eindruck. Alles an ihnen schien uns modern und anregend, und sie verkörperten die Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus im Westen. Deshalb waren der Pariser Mai und der Prager Frühling für uns zwei Seiten einer Medaille - die Bedingung für das Ende der Blockkonfrontation.

Ab Mitte der siebziger Jahre zeigten sich dann vermehrt Differenzen. Die Gewaltfrage war im Osten kein Thema. Sie war als staatliches Monopol in festen Händen und spielte allenfalls am Rande eines Fußballmatches oder ausnahmsweise anlässlich des virtuellen Stones-Konzertes auf dem Springer-Hochhaus in Wetsberlin eine öffentliche Rolle. Die Verzweifelten an den Verhältnissen richteten Gewalt schlimmstenfalls gegen sich selbst, nicht aber gegen deren Verursacher. Die Entwicklung der RAF befremdete uns - ein Irrweg, der zu verstehen, aber nicht zu billigen war.

Auch die Hinwendung zur Orthodoxie fand kaum Anhänger in der DDR. Gegen das, was man über die Rituale der "K-Gruppen" im Westen erfuhr, mutete eine SED-Betriebsgruppe wie ein Philatelisten-Club an. Auch Anhänger Pol Pots sind mir in der DDR nie begegnet, und die Mao-Fibel besorgte man sich zwar unter großen Gefahren aus der chinesischen Botschaft, nur zum Lesen blieb dann keine Zeit. Es soll aber doch zwei oder drei Maoisten in der DDR gegeben haben. Bei alledem hatten wir kein Problem damit, einen schwunghaften Ost-West-Transfer von Marx-Engels-Werkausgaben und antiquarisch erworbenen Klassikern des Stalinismus gegen neulinke Dissidenten- und Renegatenliteratur zu organisieren. Möglicherweise haben wir damit zur ideologischen Aufrüstung der "K-Gruppen" beigetragen.

Zu den Grünen, die eigentlich ein 68er-Auslaufmodell sind, fällt mir nur ein, dass sie ab Mitte der achtziger Jahre zu den DDR-Bürgerrechtlern, die man noch zu den "Spät-68ern" rechnen kann, sporadisch solidarische Beziehungen unterhielten, wofür diese ihnen dann 1990 mit dem Erhalt der Bundestagsliga dankten. Bemerkenswert bei Ost- wie West-68ern ist die nach 1989 anhaltende Veränderungsbereitschaft, wobei die frühen Jahre als Lehrjahre voller Irrtümer erscheinen und vorsichtiges Nachfragen einen Entschuldigungssturz hervorruft. Biermann, den man durchaus den gesamtdeutschen Leitkulturschaffenden der 68er nennen kann, hat den Grund dafür in klassischer Schlichtheit auf den Punkt gebracht. Es geht um Treue, nicht zum anderen, zu Sachen oder Idealen - nur zu sich selbst.

Der Autor wurde 1969 wegen einer Flugblattaktion gegen den Einmarsch des Warschauer-Paktes in Prag kurzzeitig verhaftet. In den siebziger Jahren trat er den Marsch durch die DDR-Institutionen an, arbeitete aber gleichzeitig in diversen konspirativen oppositionellen Zirkeln. Heute: Kultur- und Finanzstadtrat im Berliner Bezirk "Pankow".

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