Die tragischen Verlierer

Reflexe Fukushima und ­unsere Angst zeigen: Die ­Globalisierung ist endgültig da! Und sie drängt den Politiker in die Rolle des Schauspielers

Als vor 25 Jahren das AKW in Tschernobyl in die Luft flog, waren wir auch schon in Sorge. Aber es herrschte noch die irrationale Sicherheit, der Eiserne Vorhang werde die strahlenden Teilchen nicht durchlassen. Anders gesagt: Zu den Zeiten, da die Welt in ideologische Blöcke geteilt war, konnte sich das Bewusstsein einer totalen Globalisierung nicht vollkommen durchsetzen. Noch galt, dass das Umfallen des chinesischen Reissacks uns nicht zu kümmern habe. Da hatten die Sowjets eben geschlampt. Und unsere Atomkraftwerke waren sicher.

Doch das ist Vergangenheit. Die momentane Reaktion der deutschen Öffentlichkeit und der deutschen Politik auf die in Kilometern gemessen so viel weiter entfernte Katastrophe von Fukushima zeigt mit großer Deutlichkeit, dass der Geist der Globalisierung nun endlich in die Herzen gedrungen ist und aus ihnen strahlt.

Warum dieser Wandel? Die Menschen, die damals mit ein bisschen Panik, Lichterketten und Atomkraft-nein-Danke-Stickern auf Tschernobyl reagiert haben, sind zum großen Teil noch da; einer ihrer aktivsten wird jetzt wohl Ministerpräsident. Auch die politischen Parteien existieren noch weitgehend unverändert, obwohl Deutschland mittlerweile ganz anders aussieht. Dennoch trifft Fukushima auf eine stark veränderte Bewusstseinslage, ja auf eine andere Bewusstseinsgeneration. Denn die ersten 20 Jahre des postideologischen Zeitalters haben bei einer Mehrheit der Menschen ein globales Bewusstsein ausgebildet, das unmittelbar – und heftig! – reagiert, wenn in Japan der Reis zu strahlen beginnt.

Freilich ist die erste Äußerung dieses neuen Bewusstseins die Angst. Womöglich sind wir Deutschen heute das, was wir im letzten Jahrhundert zum Schrecken der Welt schon einmal waren, nämlich Avantgarde. Doch waren wir damals die Avantgarde der Aggression, so sind wir jetzt die der Regression: als die ersten, die zurück wollen, vor allem weg von der „Alternativlosigkeit“ der Gegenwart. Heim ins Ländle.

Im Ausland wird man das wieder „German angst“ nennen. Aber Heiner Müller sagt richtig: „Die erste Erscheinung des Neuen [ist] der Schrecken.“ Mag sein, dass die Globalisierung schon mit Columbus begann, aber ihre Resultate waren sehr lange gar nicht schrecklich. Vor den Kolonialwaren musste man sich nicht fürchten, erst recht nicht vor dem Überschuss des Außenhandels und Papas Weihnachtsgratifikation.

Lauter Mutationen

Aber vor zwei Jahren machte das globalisierte Geld sich selbstständig. Das tat sehr weh im Portemonnaie, es enttäuschte die Hoffnung auf ein müheloses Geldverdienen und war nur so gerade eben noch zu regeln. Man müsse in Zukunft unbedingt die bestehenden Gesetze und Richtlinien einhalten. Jetzt aber kippt man in Japan Meerwasser und Klebstoff und Zeitungspapier auf die geborstenen Reaktoren; es ist, als würden ein paar Vierjährige versuchen, den Brand im Chemielabor zu löschen. Kein Wort mehr von den Gesetzen und Richtlinien, die man in Zukunft blablabla. Stattdessen der eindeutige Beweis, dass alle Restrisikokalkulationen falsch waren. Angst und Schrecken sind berechtigt.

Ob uns die strahlenden Teilchen aus Japan erreichen oder nicht, ist freilich längst nicht mehr die Frage. Sie haben uns erreicht; ihre Auswirkungen sind unübersehbar, es sind lauter Mutationen: Baden-Württemberg wird grün. Konservativismus heißt nicht mehr Bürgertum plus Kultur und gezügelte Technik, sondern Windenergie und Klonverbot und kein Gen-Mais. Der Begriff „Restrisiko“ schlägt sich selbst zum Unwort des Jahres vor. Und der deutsche Liberalismus fragt sich öffentlich und ernsthaft, welches denn seine Inhalte sein könnten. Genau das aber ist Globalisierung wirklich: das unmittelbare Durchschlagen regionaler Desaster auf das Bewusstsein weit entfernt lebender Menschen. Das Zerbrechen regionaler Denkmuster und Traditionen an den schieren Fakten technischer Fehler. Endlich sind wir die eine große Familie auf Erden, die wir immer beschworen haben. Wenngleich das leider an dem Umstand deutlich wird, dass ein schwarzes Schaf gleich die ganze Sippschaft in Aufruhr versetzt und in den Ruin treibt.

Heißt es daher jetzt, kühlen Kopf zu bewahren? Oder: Moratorium? Brückentechnologie? Einsteig in den Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Atomkraft? Verdoppeln der alternativen Energien bis 2030? – Wer so etwas vorschlägt, der denkt sicher auch noch Worte wie Stammwähler und Volkspartei und hofft darauf, dass die Dinge sich wieder zurechtrütteln. Aber das ist womöglich nicht mehr der Fall.

Denn ich fürchte, der erschreckte Träger des globalisierten Bewusstseins ist zugleich einer, der die langfristige und langwierige Politik alten Zuschnitts nicht mehr erträgt und nicht mehr mitträgt. Stattdessen betrachtet er Politik als Casting-Show. Und das heißt auch: mit einer nicht gerade unproblematischen Tendenz zur Produktion ebenso wie zur Vernichtung von Superstars.

Ich halte es nicht für einen Zufall, dass kurz vor Fukushima die Identifikation des Politischen mit der Person im Casus Guttenberg hierzulande einen Höhepunkt erreichte. Denn die schiere Person des Politikers ist, was dem globalisierten Bewusstsein bleibt, worauf es sich konzentriert, seit ihm jede langfristige Bindung an politische Programme als unsinnig erscheint. Programme konnten nur im überschaubaren Rahmen der alten Staaten realisiert werden.

Politik nach Abzug der Politik

Der nationalen Politik aber werden ihre Themen jetzt ankündigungslos von irgendwoher auf der Welt diktiert. Wer das immer noch nicht wusste, weiß es spätestens seit Fukushima. Doch wenn der chinesische Reissack alle Parteiprogramme und Kabinettsbeschlüsse und Bundestagsmehrheiten über den Haufen wirft, dann darf man sich als Wähler nicht mehr an altmodischen Konstruktionen und Begriffen festhalten. Man muss flexibel sein, und wenn das auch nur dabei hilft, etwas weniger Angst zu empfinden.

Und natürlich weiß die nationale Politik selbst, dass die Globalisierung ihr die Grundlage entzieht. Viel Regieren ist längst ein Regieren-als-ob. Was aber bleibt vom Politiker, wenn man ihm Programm und Standpunkt und Konsequenz (und Macht!) entzieht? Er ist der Schauspieler seiner selbst. Zeitgemäß ins Verhältnis zu seinen Berufskollegen gesetzt durch die Quoten im „Politbarometer“ als ein öffentliches Ranking dessen, was von der Politik nach Abzug der Politik noch zu sehen ist.

Doch es droht „Morbus Superstar“. Der Politikschauspieler weckt beim Wähler letzten Endes immer den Wunsch, ihn in seiner größten Rolle zu sehen, nämlich als tragischen Verlierer. Keine Casting-Show ist an ihren Gewinnern so sehr interessiert wie an denen, die man kurz vor dem Eingang zum Olymp mit einem jämmerlichen Trostpreis nach Hause schickt. Wir erleben daher momentan ein politisches Schauspiel, das wie die triviale Wanderbühnenfassung eines Shakespeare-Stückes hauptsächlich von der Serienschlachtung seiner Helden zehrt. In Amt und Rolle bleibt nur noch, für wen es keine zweite Besetzung gibt.

Soll ich einmal ganz deutlich aussprechen, was ich befürchte? – Das globalisierte Bewusstsein tötet die Demokratie herkömmlichen Zuschnitts. Die global definierte Agenda lässt keine nationalen (also bloß lokalen) Politikkonzepte mittlerer Reichweite mehr zu, die von einem Amtsträger zum nächsten weitergegeben werden könnten. Nationale Politik bewährt sich hingegen nur noch in ihrer möglichst kurzen Reaktionszeit; was logischerweise dazu führt, dass ständig nach neuem und „unverbrauchtem“ Personal gerufen wird – eben wie in einer Casting-Show.

Doch Vorsicht! Man altert schnell auf einer Bühne. Ohne Konzepte, denen sie dienen und die sie verkörpern können, verschleißen sich Politiker wie Popstars. Und das kann niemand wünschen. Wer meint, den Herausforderungen der Globalisierung sei nur mit Reflexhandlungen zu begegnen, der setzt, auch wenn er demokratisch zu agieren glaubt, unsere Demokratie aufs Spiel. Konkret: Wir hatten schon einmal den Ausstieg aus der Atomkraft. Er war damals Resultat einer sinnvollen Überlegung, darüber hinaus konnte er der übrigen Welt als symbolische Handlung gelten: Wenn die guten und kaum gefährdeten AKW ausgeschaltet werden, ist das ein Zeichen für andere. Jetzt aber bekommen wir vielleicht einen Radikalausstieg als bedingten Reflex. Das ist der Unterschied zwischen Politik und Pop.

Und hier müssen wir wählen.


Burkhard Spinnen ging im Freitag zuletzt der Frage nach, warum so viele jüngere Schriftsteller der Linken fernbleiben

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