Blut aufwischen. Und weiter

Textilindustrie Drei Jahre nach der Tragödie von Rana Plaza bekommen Näherinnen in Bangladesch immerhin mehr Lohn
Ausgabe 12/2016

Wenn Parvin an ihrer Nähmaschine sitzt, denkt sie an ihre Kinder. Kein Tag vergeht, an dem sie nicht an sie denkt. Sehen kann sie ihre Kinder viermal im Jahr. Parvin ist 28, sie kommt aus dem ländlichen Süden Bangladeschs. In der Hauptstadt Dhaka fand sie Arbeit in einer der 5.000 Textilfabriken, die in den vergangenen Jahrzehnten an den Rändern der Metropole aus dem Boden gestampft wurden. Aber in Dhaka sind die Lebenshaltungskosten zu hoch für Parvins Lohn. So teilt sie sich ein kleines Zimmer. Spart, wo sie kann, um möglichst viel Geld zu ihren Eltern zu schicken, wo die Töchter aufwachsen.

Wie Parvin geht es vielen Frauen hier, sagt Nazma Akter, Präsidentin der Textilarbeiter-Gewerkschaft SGSF. Sie sitzt in einem kleinen Büro im zweiten Stock eines Wohnhauses in Dhaka. Von nebenan dringen die Stimmen der Näherinnen herüber. Women’s Café heißt die Dreieinhalbzimmerwohnung. Sie ist ein Treffpunkt für Näherinnen, hier reden sie über Sorgen und Ängste. Lernen, was ihre Rechte sind.

Akter ist eine bestimmte Frau. Trotz Morddrohungen und Übergriffen kämpft sie weiter. Die Frauen arbeiteten oft 12 bis 14 Stunden am Tag. Sie seien auf Überstunden angewiesen, so niedrig sind die Löhne. Zu nähen gibt es genug.

„Fast Fashion“ nennt Akter das. Summer, Winter, Midseason – ein Sale jagt den nächsten. Die Modewelt steht nie still. Denn: Neue Kollektionen schaffen neue Kaufanreize, und davor muss alles raus: „Jetzt zwei Shirts zum Preis von einem!“ Den Preis zahlt jemand anderes.

Parvins jüngere Tochter will Ingenieurin werden, die ältere Ärztin. Noch gehen die beiden zur Schule, die kann Parvin gerade noch bezahlen, denn der Staat zahlt für Mädchen die Hälfte des Schulgelds. Danach wird es schwierig. Trotzdem, sagt Akter, es hat sich auch einiges verbessert, seit „Rana Plaza“, dem Einsturz einer Textilfabrik im Norden von Dhaka im April 2013.

Der Schutt ist weg

Abdullah al-Muyid erinnert sich noch zu gut an jenen Mittwoch im April. Wenn er heute auf das Gelände blickt, auf dem einst die Fabrik stand, sind die Bilder von damals wieder da. Zu sehen aber gibt es nichts mehr, der Schutt ist abgetragen, die Löcher mit Wasser geflutet. Der 36-Jährige arbeitete damals für die BBC, zwei Tage und Nächte verbrachte er am Unglücksort. Sah zu, wie Helfer den Überlebenden mit Äxten die Arme oder Beine abhackten, um sie aus der Ruine zu befreien. 1.136 Menschen starben unter den Trümmern. „Was ich dort gesehen habe, hat mich nicht mehr losgelassen“, sagt Muyid. Er hörte mit dem Journalismus auf und heuerte bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) an.

In Bangladesch gibt es ein „vor Rana Plaza“ und ein Danach. „Es war ein Weckruf“, das sagen hier alle. Regierung, Gewerkschaften, Fabrikbesitzer und die Firmen aus Europa und den USA, die ihre Kleider in Bangladesch produzieren lassen: Niemand will ein zweites Rana Plaza. Eingestürzte Gebäude, aus denen neben Leichenteilen die T-Shirts für Kaufhäuser im Westen gezogen werden – schlecht fürs Business.

Für die ILO war Rana Plaza wichtig. Seither hat sich ihr Etat in Bangladesch von 2 auf 20 Millionen Euro im Jahr verzehnfacht. Abdullah al-Muyid arbeitet eng mit der Regierung in Bangladesch zusammen. Im Ministerium für Arbeit sitzt er mit dem Generalinspektor für die Kontrolle der Textilfabriken am Konferenztisch, Syed Ahmed, ein selbstbewusster Mann. „Wir haben viel erreicht“, sagt er. Es heißt, nach Rana Plaza sei er auf dem Posten gelandet, weil er nicht korrumpierbar sei. Vor Rana Plaza waren Sicherheitskontrollen ein einziges Korruptionsgeschäft. Internationale Firmen konnten sich Zertifikate für ihre Fabriken kaufen. Wer sie ausstellte, bestimmte den Preis. Durchfallen gab es nicht.

Seit Syed Ahmed im Amt ist, sind 37 Fa-briken geschlossen worden, weitere 42 teilweise. Er spricht mit harter Stimme, sein Tonfall hat immer etwas Befehlendes. Seine Erfolge können sich sehen lassen. Er hat die Zahl der Inspektoren von 314 auf 993 erhöht und ihre Löhne angehoben. Es gibt jetzt unangekündigte Kontrollen, einheitliche Sicherheitsstandards und eine anonyme Beschwerde-Hotline. Trotzdem, die Hochglanzbroschüre, in der der Generalinspektor seine Erfolge veröffentlicht, listet für 2014 immer noch 151 Arbeitsunfälle mit 11.000 Verletzten und 19 Toten auf.

Bei Javed Ahmed passiert so etwas nicht. „Uns geht es nicht nur um den Profit“, sagt der Fabrikbesitzer und deutet mit einem Lächeln auf seine Powerpoint-Präsentation. Hier stehen die Zahlen, auf die er stolz ist: Stipendien für die Kinder seiner Arbeiterinnen, Fortbildungen und Sicherheitstrainings. Ein bisschen gedrungen sieht er aus, aber sein Anzug sitzt perfekt. „Wir machen hier viel mehr, als gesetzlich vorgeschrieben ist.“ Ahmed lächelt. Es ist ein überlegenes Lächeln. „Alles super bei uns.“

Javed Ahmed bekommt oft Besuch in seiner Fabrik. Heute sind es Journalistinnen, morgen Vertreter der EU. Hinter ihm hängen die Kleider, die seine Fabrik produziert. Kinderpullis von C&A, Hosen von G-Star, schwarze Sweatshirts von Carhartt. In dieser Fabrik hängen die Logos der Firmen für alle sichtbar. Hier ist ja alles gut.

„Rana Plaza hat den Druck erhöht“, sagt Steve Needham von der ILO. Er hat den Besuch der Fabrik organisiert. „Viele Firmen wollen mit so etwas nicht mehr in Verbindung gebracht werden, sie achten jetzt da-rauf, wie die Fabriken aussehen, in denen sie nähen lassen.“

Aber die Inspektoren der Regierung und die ILO kratzen nur an der Oberfläche. Das Problem heißt Subcontracting. Viele Fa-brikbesitzer geben Teile der Arbeit weiter an andere Fabriken, etwa das Annähen der Knöpfe. Wenn von da aus wieder Arbeit ausgelagert wird, entsteht ein undurchsichtiges Netz, das immer schwerer zu kontrollieren ist. In diesem Netz gibt es noch viele Fabriken, die nicht den neuen Sicherheitsstandards genügen, sagt Steve Needham von der ILO. Auch Javed Ahmed gibt zu, hin und wieder Teile seiner Produktion an andere weiterzugeben. Aber nur als Ausnahme, wenn eine neue Kollektion ansteht, wenn der Klamottenhunger in Europa und den USA zu groß wird.

Das weiß auch die deutsche Firma C&A. Deren Sprecher in Deutschland sagt, man wolle Subcontracting nicht verbieten. „Aber wenn eine Fabrik, die für C&A produziert, Teile der Produktion an andere Fabriken auslagert, muss sie C&A darüber unterrichten.“ C&A-eigene Kontrolleure überprüften jeden Subcontractor, beteuert er.

So einfach, wie C&A dies beschreibt, scheint es jedoch nicht zu sein. Nicht einmal der ILO mit ihren 80 ständigen Mitarbeitern vor Ort gelingt es, alle Subunternehmer ausfindig zu machen. Ebenso wenig Syed Ahmed vom Arbeitsministerium mit seinen 993 Kontrolleuren. „Es ist ein bisschen wie ein Katz- und Mausspiel“, sagt er. Dauernd entstünden neue Fabriken, teilweise würden einfach ein paar Nähmaschinen in eine Wohnung gestellt.

Gewerkschaften? Warum?

In der Fabrik von Javed Ahmed arbeiten 5.000 Näherinnen. Das Rattern der Nähmaschinen ist ohrenbetäubend, der Staub zerschnittenen Stoffs hängt in der Luft. Mit lauter Stimme erklärt der Besitzer die Sicherheitsvorschriften. Mundschutz sei Pflicht. Ohrenschützer auch. Sobald ich mit einem Übersetzer versuche, eine Näherin anzusprechen, rennt ein Aufseher herbei und schreit die Näherin an, verschüchterte Augen blicken schuldbewusst zu Boden.

Die von der Weltbank berechnete nationale Armutsgrenze liegt in Bangladesch bei umgerechnet 53 Euro im Monat. Die Löhne in Javed Ahmeds Fabrik liegen zwischen 65 und 90 Euro. Eine Familie kann man davon nicht ernähren. Selbst wenn beide Eltern arbeiten, wird es schwierig.

Gewerkschaften? Nein, das gebe es hier nicht, sagt Javed Ahmed. „Die Arbeiterinnen wollen das auch gar nicht.“ Es gebe zwei gewählte Vertreterinnen. Die könnten sich immer an ihn wenden. „Diese Arbeitervertretungen in den Fabriken sind zahnlose Tiger“, sagt Professor Anu Muhammad von der Jahangirnagaruniversität Dhaka. Der Wirtschaftswissenschaftler sieht in den schwachen Gewerkschaften die Ursache für die geringen Löhne im Textilsektor. Nur sieben Prozent der Arbeiterinnen sind in Gewerkschaften organisiert. Dabei habe Bangladesch eine große gewerkschaftliche Tradition, vor allem in der Jute-Industrie des 20. Jahrhunderts. Aber die Strukturanpassungsprogramme der 1980er Jahre hätten die Selbstorganisation zerstört.

Heute existiert eine dezentrale Graswurzelbewegung, die sich 2013, kurz nach Rana Plaza, als sehr schlagkräftig herausstellte. Nach einem dezentral organisierten Streik und Protesten der Arbeiterinnen verdoppelte die Regierung 2013 den Mindestlohn für die Textilindustrie. Erfolge wie dieser seien selten, sagt Anu Muhammad. „Von Tarifverhandlungen sind wir noch weit entfernt.“ Mit der Verdoppelung des Mindestlohns und den Investitionen in die Sicherheitsstandards ist die Produktion in Bangladesch teurer geworden. Nicht aber für die Einkäufer aus Europa und den USA. „Die beteiligen sich nicht an den Kosten“, erklärt Mohammad Hossain vom Verband der Fabrikbesitzer in Bangladesch. Die Mehrkosten verringern den Profit der Fa-brikbesitzer in Bangladesch, nicht den der Einkäufer. Weil sich einige Fabrikbesitzer die Investitionen in die neuen Sicherheitsmaßnahmen nicht leisten können, springt jetzt der Staat ein und hilft mit günstigen Darlehen.

Lernen mit Würfeln

Parvin reckt die Arme in die Höhe. Triumphierend schaut sie in die Runde und zieht ihre Figur ins Ziel. Im Women’s Café sitzt Parvin mit gut 20 anderen Näherinnen auf dem Boden. In kleinen Gruppen spielen sie ein Würfelspiel, um zu gewinnen, müssen die jungen Frauen Fragen zu ihren Arbeitsrechten beantworten. „Die meisten sind kaum zur Schule gegangen“, erklärt Gewerkschaftlerin Nazma Akter. „Hier lernen sie spielerisch, was ihre Rechte sind.“

Frauen wie Parvin gibt es in Bangladesch über drei Millionen. In Myanmar, Vietnam, Thailand, China, Indien und der Türkei nähen Millionen Menschen unter ähnlichen Bedingungen. In den drei Jahren seit Rana Plaza hat sich ihre Situation ein wenig verbessert, aber an den Strukturen hat sich kaum etwas geändert. Preisdruck beherrscht die Textilindustrie. Weil Asien zu teuer wird, orientieren sich die ersten Marken nach Afrika um. In Äthiopien entsteht gerade eine Textilindustrie, die Löhne dort liegen noch unter denen in Bangladesch.

Nina Marie Bust-Bartels hat in Bangladesch mit Unterstützung der United Nations Association of Germany recherchiert

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