Heike Ahrens dreht den Wasserhahn auf. Es gurgelt kurz, dann fließt es. Mittlerweile hat auch die Wohnung im ersten Stock eine funktionierende Küche. Duschen und Zwischenwände fehlen in dem Haus aber immer noch. Das Gebäude war mal ein Bürokomplex, Neonleuchten und Lamellenvorhänge zeugen noch von dieser Zeit.
Heike Ahrens ist 49 Jahre alt, Tischlerin und Besetzerin. Sechs Jahre stand der triste 50er-Jahre-Bau mit grau gekachelter Fassade in der Innenstadt Göttingens, dieser einstigen Hausbesetzerhochburg, leer. „Immer wieder bin ich daran vorbeigelaufen und dachte: Was für eine Verschwendung“, sagt Ahrens. Doch seit einem halben Jahr herrscht hier wieder Leben, im repräsentativen Saal wird diskutiert, aus den Fenstern hängen Pla
8;ngen Plakate.Steigende Mieten und Leerstand in bester Lage – die „Recht auf Stadt“-Bewegung hat gute Argumente auf ihrer Seite. Dennoch werden heute die meisten neu besetzten Häuser in Deutschland schnell wieder geräumt, eine Renaissance der großen Hausbesetzerzeit ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Linke Freiräume stehen überall unter Druck. Warum also funktioniert die Besetzung in Göttingen?Studenten und GeflüchteteWie in den meisten Ballungszentren steigen auch hier die Lebenshaltungskosten, zumal Niedersachsen bisher über keine Mietpreisbremse verfügt. Zudem kritisieren Studenten schon seit einigen Jahren, dass Wohnheimplätze fehlen. 2013 besetzten sie ein ehemaliges Heim, das jahrelang leer stand – erfolglos. Die Polizei räumte das Haus nach wenigen Tagen. Jetzt aber sind die Studenten nicht mehr allein. Eine zweite Gruppe kritisiert nun ebenfalls den fehlenden Wohnraum im Zentrum Göttingens: Geflüchtete. In der überfüllten Unterkunft in Friedland, einem zehn Kilometer entfernten Kaff, wohnte zum Beispiel der 22-jährige Anas mit fünf Menschen in einem Zimmer, weit weg von Anschluss und Ankommen. Und dabei stehen in Göttingens Innenstadt ganze Häuser leer. Also fußläufig zur Universität, mit Deutschkursen in der Nähe und vor allem mit Kontakt zur Gesellschaft, nicht einfach an den Rand geschoben, sondern mittendrin. So wurde auch Anas zum Besetzer.In neun der sechzehn Zimmer des alten Gewerkschaftshauses wohnen jetzt Asylsuchende. Und mit ihnen bekommt die Besetzung das, was frühere Projekte in Göttingen nie erreichten: die Unterstützung der Bevölkerung. Wie überall in Deutschland engagieren sich auch in der Universitätsstadt viele Bürgerinnen und Bürger für Geflüchtete. Und im neu besetzten Gewerkschaftshaus ist Platz: für Sprachkurse und Beratungsangebote, für Austausch und Gemeinsamkeit. Die Besetzung ist ein Anlaufpunkt für alle. Alt und Jung, Studentin und Arbeiter, radikal oder nicht.Während die Hausbesetzerszene in den 80er Jahren eine in sich geschlossene Subkultur war, spricht dieser Fall das breite Göttinger Bürgertum an. Die Hürden, sich zu beteiligen, sind geringer als damals. Deutsch zu unterrichten fühlt sich schließlich nicht illegal an. Und weil man sich hier sowieso trifft, beginnt man auch, miteinander zu sprechen. Etwa über die Pläne der Stadt, 400 dezentral untergebrachte Flüchtlinge in eine neu gebaute Großunterkunft im Industriegebiet umzusiedeln. Oder über die Lebensmittelgutscheine, die einige Geflüchtete statt Bargeld bekommen.Ehemalige SynagogeIm Alnatura um die Ecke stößt der Gutschein auf ratlose Blicke. Vorgesetzte werden gefragt, Kolleginnen herbeigerufen. Die Schlange wird länger, die Blicke werden unfreundlicher. Man müsse den Filialleiter fragen, und der sei erst morgen wieder da. Am nächsten Tag heißt es: „Alnatura nimmt generell keine Sozialgutscheine an.“ Alles umsonst. Auch nebenan bei Rewe herrscht Ratlosigkeit und man guckt genervt, hier darf die Kassiererin den Gutschein aber annehmen. Um diesen Blicken zu entgehen, um sich nicht erklären zu müssen, wo die Sprache fehlt, ist etwa auch der 26-jährige Ahmed aus Eritrea hier. Unter den Geflüchteten hat sich herumgesprochen, dass man in dem besetzten Haus Unterstützung bekommt und seine Gutscheine gegen Bargeld tauschen kann.Das Land Niedersachsen empfiehlt seinen Kommunen eigentlich, keine Lebensmittelgutscheine mehr auszugeben. Diese Praxis werde nur in Ausnahmefällen und als Sanktionsmittel angewendet, sagt Detlef Johannson, Sprecher der Stadt Göttingen. Und der Umzug in die neue Unterkunft sei nur vorübergehend. Die bisherigen Versuche der Stadtverwaltung, die Geflüchteten in die Massenquartiere zu verlegen, wurden von Göttinger Bürgerinnen und Bürgern blockiert. In der Universitätsstadt ist aus den Flüchtlingshelfern ein organisierter politischer Akteur geworden, mit der Besetzung lässt sich nun Lokalpolitik gestalten. Stadt und Studierendenwerk kündigten im Mai an, neue Wohnungen bauen zu wollen – zuerst für Geflüchtete, anschließend könnten diese dann von Studierenden bewohnt werden.Auch für die Zukunft des besetzten Hauses sieht es gut aus. Bis auf die CDU unterstützen alle Parteien im Stadtrat die Besetzer. Eigentümer ist eine Tochtergesellschaft des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Zwischen Stadt, Besetzern und DGB gab es deshalb bereits vier Treffen, es wird über einen Kauf oder eine Erbbaupacht verhandelt. Der DGB hat zwar früher auch schon mal bei einer Besetzung seines Eigentums räumen lassen, ist sich in diesem Fall wohl aber der Wirkung einer solchen Aktion bewusst. „Seit wir hier sind, wird der alte Gewerkschaftssaal wieder genutzt“, sagt Heike Ahrens. „Das hat viele Gewerkschaftsmitglieder überzeugt, die vorher skeptisch waren.“ Zudem steht das Haus auf dem Grundstück der ehemaligen Synagoge, die in der Pogromnacht 1938 ausbrannte. Die jüdische Gemeinde hatte dem DGB das Grundstück damals für einen symbolischen Preis vermacht. „Jetzt mit Polizeigewalt Geflüchtete aus diesem Haus zu treiben, hätte einen üblen Beigeschmack“, sagt Ahrens.