Die Vergangenheit ist immer schon da

Bühne Langstengel und Hutter zeigen mit "Nur ein Wimpernschlag" die Ambivalenz postrevolutionärer Prozesse. Die Schauspieler überzeugen mit unglaublicher somatischer Präsenz
Ausgabe 26/2013

"Es gibt keine Nullen, nur Einsen“, Kassandra hat ihre Botschaft auf den Rücken des stummen Finsh (Sven Hakenes) tätowiert. Er kniet auf dem Boden, der Oberkörper nackt, den Kopf gesenkt. „Sie warfen mich ins Feuer. Aber die Wahrheit ist nicht brennbar.“ Weiß ist die Bühne und leer, sterile Sauberkeit aber eine Illusion.Kassandra, die Seherin, sagt in der Revolutionsnacht, was keiner hören will. Sie erkennt die Schwäche der Revolution und des neuen Premiers, gespielt von Sven Normann. „Sie musste sterben“, Normanns Stimme packt, greift ins Herz. Ein Mord verdunkelt die Morgenröte des jungen Staates.

Das Autoren- und Regie-Duo Kay Langstengel und Enya Hutter inszeniert im Berliner Theater RambaZamba eine Kritik, die – obwohl zurückgewandt – auch als Gegenwartsbeschreibung lesbar ist: Nur ein Wimpernschlag betrachtet postrevolutionäre Prozesse in all ihrer Ambivalenz. Das Stück spielt am Hochzeitstag der Tochter des Premiers. Zwei Herrschaftshäuser sollen vereinigt werden, aber das Brautpaar fehlt. Die Festgesellschaft wird derweil von der Vergangenheit eingeholt.

Was ist der Unterschied zwischen einer Vision und einer Prognose? Eine Vision lässt keinen Spielraum, keinen Zweifel. Das Stück spielt mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs. Auch der Premier hatte einst eine, eine Idee von einer besseren Welt. Damals war er Revolutionär, nun verbietet er Visionen. Längst ist seine eigene zur Ideologie geworden, ihr gehorcht der Staat: „Wer ist der Vater der Fraktion?“, militärischer Drill in Endlosschleife. „Der Premier“, antwortet der gleichgeschaltete Chor.

Nur ein Wimpernschlag ist ein körperliches Stück. Die Schauspieler füllen die Bühne mit unglaublicher somatischer Präsenz. In den zahlreichen Tanzszenen sprechen die Körper den Subtext. Die Inszenierung der Leiber vollzieht sich auch auf inhaltlicher Ebene: die Visionäre im Staat werden körperlich gebrandmarkt. Ein Stempel entstellt unwiderruflich die Gesichter, Rücken, Brüste der Rebellen. Der Premier indoktriniert nicht nur den Geist.

Die Musikauswahl der Tanzszenen reiht Tango, Rumba, Menuett, Popsongs und klassische Klavierstücke aneinander, die Sprünge sind mutig, teilweise befremdlich. Aber sie lockern die textlastigen Szenen auf, in denen sich Dialoge unverknüpft aneinander reihen. Stellenweise wirkt der Text auswendiggelernt.

Kassandra, die eigentliche Hauptperson, wird nicht dargestellt. Das ist schade, so fehlen aktive Frauenrollen; die Frau des Premiers druckt sich in seinen Schatten. Kassandra, die Visionärin des Stücks erhält (mit Ausnahme des Briefes) keine eigene Stimme. Was man von ihr erfährt, ist was die Männer über sie sagen – herabwürdigend, sexualisiert.

Am Ende wird sich die Revolution überlebt haben, das Brautpaar kommt nicht, die neue Generation trägt sie nicht weiter. Kein Neuanfang, keine Stunde Null. Die Vergangenheit ist immer schon da. „Nur Einsen, keine Null“, sagte Kassandra in der Revolutionsnacht. „Es nützt auch nichts, den Sand auszuschütten. Stehen bleibt nur die Uhr.“

Nur ein Wimpernschlag Theater RambaZamba, Berlin. Wieder von 25. bis 28. Juni

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