Seine Hand zittert, während er den Lauf der Maschinenpistole auf den Oberkörper der Frau drückt. Ihre weit aufgerissenen Augen lassen ihn ihre Angst erkennen. Und sie spiegeln seine eigene Furcht. Mit zittrigen Händen stapelt die Bankangestellte französische Geldscheine in eine Tasche. Er schaut ihr zu, das Maschinengewehr liegt nun etwas ruhiger in seiner Hand.
„Ich habe mir in die Hosen gemacht – jedes Mal“, sagt Lucio Urtubia heute, wenn er sich an seine Banküberfälle vor mehr als 50 Jahren erinnert. Er hatte nicht Angst, verhaftet zu werden, sondern jemanden zu verletzen oder zu töten. Das Geld stiehlt er nicht für sich, es ist für den anarchistischen Widerstand im Spanien der Franco-Zeit.
Urtubia erzählt seine Geschichte gern. Es ist die Geschichte eines Lebens im Widerstand. Der Baske ist seit den fünfziger Jahren glühender Anarchist. Er glaubt nicht an den Staat, nicht an die Kirche, nicht an die Theorien der Intellektuellen. Er ist aber überzeugt, dass Menschen durch ihr Handeln alles möglich machen können. Er hat es selbst erlebt. Als einfacher Arbeiter fälschte er Pässe für politisch Verfolgte und startete eine ganz eigene Umverteilungsaktion: Mit Zehntausenden gefälschten Schecks der City Bank finanzierte er linke Revolutionsgruppen auf der ganzen Welt.
An diesem Frühsommerabend in Berlin redet Urtubia im Haus der Demokratie. Seine 2010 veröffentlichte Autobiografie heißt Baustelle Revolution (Assoziation A). Vor ihm sitzen junge Linke und alte Gewerkschaftler. Der Raum ist voll. „Tut etwas! Handelt!“, ruft der 82-Jährige und haut mit der Hand auf den Tisch. Das Alter hat ihn nicht weniger kämpferisch gemacht.
Am nächsten Mittag hat er Zeit für ein Gespräch. Bei einem Italiener bestellt er Pizza und schweren Rotwein. In der Hand hält er eine Schwarzweißfotografie von sich mit Ende 20. Sein durchdringender Blick ist derselbe geblieben.
Eine Kindheit im spanischen Bürgerkrieg
Urtubia wird 1931 im baskischen Navarra geboren. Als der spanische Bürgerkrieg beginnt, ist er fünf. Sein Vater ist Sozialist. Wenn es klingelt, haben die Kinder Angst, der Vater versteckt sich. Als Urtubia erwachsen ist, ist der Bürgerkrieg vorbei. Aber die Gräueltaten sind noch allgegenwärtig. Die Täter sind nun an der Macht. Leute wie Urtubia, arm und links, haben es schwer. Während des Militärdienstes desertiert er und flieht ins Paris der Fünfziger.
Dort findet er Arbeit als Maurer und hört das erste Mal von der Idee einer Welt ohne oben und unten, ohne Mächtige und Machtlose. Jeden Mittag isst er mit katalanischen Maurern der anarchistischen Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT). Sie bringen ihm Bücher und Zeitungen. Er verschlingt die Texte. „Sie öffneten mir die Augen. Plötzlich war da eine Tür zu einer ganz neuen Welt.“ Und er geht hindurch.
Seine neuen Freunde nehmen ihn mit in die Rue de Sainte-Marthe 24, das Zentrum der CNT. Dort sitzen sie dicht gedrängt, anarchistische Arbeiter und französische Intellektuelle. Er lernt Albert Camus kennen, André Breton und die Leute von der Résistance. „Ich hatte von nichts eine Ahnung. Ich war kaum zur Schule gegangen, und das Einzige, was ich von meinen Lehrern gelernt hatte, war Angst“, erzählt er. „Bis zur letzten Metro diskutierten wir, tranken, rauchten. Und ich stellte tausend Fragen.“
Die Ideen, die er in dem verfallenen Haus hört, scheinen wie für ihn gemacht. Er kann nicht vergessen, wie sein Vater qualvoll an Krebs starb, weil die Familie zu arm war, Schmerzmittel zu kaufen. „Wir konnten uns nicht einmal Aspirin leisten, und mein Vater krümmte sich vor Schmerzen.“ Die Mutter stand am Bett des Vaters, wischte den Schweiß von seiner Stirn. Über Monate sah die Familie ihm beim Sterben zu. „Er bat mich, ihn zu töten“, sagt Urtubia. Dann macht er eine Pause, schaut auf seine Hände. Leise sagt er: „Ich hatte nicht den Mut dazu.“
Solche Armutserfahrungen vergisst man nicht, sie verblassen nicht wie andere Erinnerungen, sie werden Teil eines Menschen. „Mein Glück war, dass ich arm war“, sagt Urtubia heute. Die Armut habe ihn gelehrt, vor nichts Respekt zu haben, nicht vor der Kirche, nicht vor dem Staat. Die Erfahrung der Armut ließ ihn Anarchist werden.
Teil einer Bewegung
In Paris lernt er auch den spanischen Anarchisten Quico Sabaté kennen. Von ihm lernt er, was es heißt, gegen Franco zu kämpfen. Und von ihm bekommt er Waffen, eine Maschinenpistole, Thompson Kaliber 11,43. Mit der raubt er Banken aus.
„Natürlich hatte ich auch Zweifel“, sagt er. Es waren schließlich auch Arbeiter, denen er die Pistole vor die Brust hielt. Und so suchte er einen anderen Weg, den Widerstand gegen die Franco-Diktatur zu unterstützen. Ausweise zu fälschen war eine Möglichkeit, für politisch Verfolgte und für sich. Die Fälschungen waren gut.
„Ich war nichts als ein armer Bauernsohn“, sagt Urtubia. Aber plötzlich war er jemand, Teil einer Bewegung. Ein wichtiger Teil. Der Widerstand gegen die Franco-Diktatur, das Leben im Untergrund, dafür brauchte es viel Geld. Urtubia beschafft es der anarchistischen Bewegung Spaniens. „Jeder macht das, was er kann“, sagt er. Es klingt stolz.
Er ist nicht derjenige, der die Dinge durchdenkt, er packt lieber an. Zum Beispiel im Mai 1968: An der Sorbonne treffen sich Intellektuelle, Studenten und Arbeiter zum Diskutieren. „Ich hatte das Gefühl, nicht an sie heranzureichen“, sagt Urtubia. „Dafür konnte ich sehr gut mit der Hacke umgehen.“ Und so hackt er bei den Demonstrationen die Straßen auf, reißt die Pflastersteine heraus. Seine Hände erzählen diese Geschichte mit, wenn er davon spricht. Beim Händedruck spürt man heute noch die Schwielen, die Überbleibsel eines Maurerlebens. „Die Intellektuellen denken zu viel, aber sie handeln nicht“, sagt er.
Eine Ausnahme für ihn ist Anne. Er lernt sie im sagenumwobenen Mai 1968 kennen. Sie studiert Biologie und kommt aus einer katholischen Unternehmerfamilie. Er ist 15 Jahre älter als sie. Eigentlich trennen sie Welten. Aber die Studentin ist beeindruckt von dem Anarchisten. Er erzählt ihr von Camus, von Breton. „Dass ich diese anarchistischen Dichter kannte, beeindruckte sie.“ Anarchismus macht auch sexy.
Dann tritt Julieta in sein Leben. 1970 kommt sie zur Welt, klein und zerbrechlich. Darf ein Revolutionär ein Kind in die Welt setzen? Urtubia geht im Morgengrauen zur Arbeit als Maurer, danach verbringt er Stunden in den abgedunkelten Räumen, wo die Druckmaschinen rattern. Wo ist da Zeit für ein Kind? Julieta und er schaffen sich Inseln im Revolutionsalltag. Jeden Tag holt er seine Tochter von der Schule ab. Sie gehen zusammen zur Bäckerei, und er kauft ihr ein Schokoladentörtchen.
Wie erklärt man seinem Kind die Revolution? Das Mädchen weiß, wen sie anrufen muss, wenn die Polizei vor der Tür steht. Wenn sie Metro fährt, steigt sie um, auch wenn es nicht nötig ist – um zu sehen, ob ihr jemand folgt.
Das ist die andere Seite der Revolution. Davon erzählt Urtubia beim Italiener, nicht im Haus der Demokratie. Dort fragen ihn die Zuhörer nach seinem Freiheitsbegriff, wollen wissen, ob er Determinist sei. Mit einer energischen Handbewegung wischt er die Fragen beiseite: „Ihr denkt zu viel, es geht darum zu handeln. Die Banken sind die Diebe. Die Regierungen sind die Terroristen. Ich bin unschuldig.“ Der Widerstand braucht ein klares Weltbild.
Ein Mann aus dem Publikum fragt nach der Sache mit den Traveller-Schecks, Urtubias größtem Coup. „Die Menschen interessiert immer das Spektakuläre“, sagt er und spielt den Empörten. Aber eigentlich gefällt ihm die Ehrfurcht, mit der die Frage gestellt wird. Lucio Urtubia, Arbeiter ohne Schulbildung, sitzt hier vor all diesen Menschen, die hören wollen, was er zu sagen hat.
Ende der Siebziger überschwemmt er Europa mit gefälschten Schecks der City Bank. Seine Druckplatten sind gut. Die falschen Schecks haben dieselben Seriennummern wie die echten, so fallen die Fälschungen der Bank erst zu spät auf. Das Geld geht an die CNT, die ETA, lateinamerikanische Gruppen, französische und italienische Anarchisten. „Ich kannte alle Aktionsgruppen, die es damals gab“, sagt Urtubia.
Schecks für 36 Millionen Euro
Etwa 36 Millionen Euro bringen seine Schecks ein. Er richtet seine Maschinenpistole jetzt nicht mehr auf Menschen, aber die von ihm mitfinanzierten Gruppen töten für ihre Ziele. Wie geht das zusammen? Die Verhältnisse seien gewalttätig, sie produzierten Armut und Tod, sagt er. „Ich bin nicht dafür, Menschen umzubringen, aber was ist ein Mord gegen die Millionen, die von Regierungen umgebracht wurden?“
Der Kampf gegen Franco prägte seine Weltsicht, die klare Trennung zwischen Gut und Böse. Bei all den revolutionären Gruppen habe er niemanden kennengelernt, der sich bereichert hätte, erzählt Urtubia. „Obwohl viel Geld durch unsere Hände ging. Stehlen ist ein revolutionärer Akt. Aber nur, wenn es für die Sache geschieht, nicht zum eigenen Vorteil.“
Die Scheckfälschungen gehen jahrelang gut. Dann wird er verhaftet. Die Polizisten stellen bei ihm einen Koffer randvoll mit gefälschten Schecks sicher. „Es gibt im Leben nichts Schmerzhafteres, als von jemandem verraten zu werden, dem man vertraut hat“, sagt er knapp. Seine Welt gerät aus den Fugen. Die Haft ist ein Schock.
Zu Hause wartet Julieta, zu klein für die Wahrheit. Immer wieder sind ihre Eltern im Gefängnis. Im Urlaub seien sie, erzählt man ihr. Sie versteht es nicht. „In ihren Augen hatten wir sie verlassen. Und als wir zurückkamen, schaute sie uns nicht an“, erinnert sich Urtubia. Aber nie habe Julieta ihm das später vorgeworfen.
Urtubia bleibt nicht lange im Gefängnis. Denn während er einsitzt, reißt der Strom aus gefälschten Schecks nicht ab, die City Bank muss versuchen den Schaden einzudämmen. So gelingt es Urtubia, Straffreiheit auszuhandeln. An einem Oktobertag 1982 geht er mit einem Koffer voller gefälschter Schecks und den dazugehörigen Druckplatten in ein Pariser Hotelzimmer, um den Tausch zu besiegeln. Für die City Bank ist es eine Blamage. Urtubia verlässt das Hotel als freier Mann.
Danach muss er sich aber zurückhalten. Die Polizei hat ihn im Blick. Er kauft ein verfallenes Haus, renoviert es und gründet das Kulturzentrum Louise Michel. Heute ist das sein Lebensinhalt. Und die Gespräche mit jungen Anarchisten. Die Jugend sei seine Hoffnung, sagt er. Deswegen reist er durch Europa und lässt sich bewundern.
Dabei hat er immer denselben kleinen Koffer dabei. „Darin ist alles, was ich brauche“, sagt er. Aus der Seitentasche zieht er ein Heft. In akkurater Druckschrift quetschen sich die Wörter zwischen die Linien der Seiten. Jeden Tag schreibt er da rein. Demnächst soll sein neues Buch erscheinen. Der Titel: „Meine gelebte Utopie“.
Anarchismus lehnt die Herrschaft von Menschen über Menschen ab. Der Begriff stammt vom altgriechischen Anarchia ab und bedeutet Herrschaftslosigkeit. Er zielt letztendlich auf die Abschaffung des Staates. An dessen Stelle tritt keine Regellosigkeit, sondern eine egalitäre Selbstverwaltung. Das Zusammenleben der Menschen soll horizontal organisiert werden, nicht vertikal. Die Entscheidungsfindung soll durch Konsens erfolgen, nicht durch Mehrheitsentschluss.
Die Idee des Anarchismus reicht zurück bis in die Antike. Seit dem 19. Jahrhundert etablierten sich verschiedene Strömungen, die in den politischen und sozialen Kämpfen des 19. und 20. Jahrhunderts relevant wurden. Von der Pariser Kommune 1871 bis zu den Studierendenbewegungen der sechziger Jahre fungierte der Anarchismus als theoretische Basis der Proteste. Am stärksten war er in Spanien, dort trug die anarchistische Gewerkschaft Confederación National del Trabajo (CNT) den Widerstand gegen die Franco-Diktatur. Auch im 21. Jahrhundert hat die Idee Anhänger, etwa in der Occupy-Bewegung: Ihr Vordenker. David Graeber ist Anarchist. NBB
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