Wo ist deine Schwester?“, brüllt der Vater seinen Sohn an. Mit großen Schritten geht er auf Ali zu, schlägt ihm den Gameboy aus der Hand. „Wer ist der Mann im Haus, wenn ich nicht da bin?“, schreit der Vater. In Alis Stirn gräbt sich eine tiefe Falte, er blickt zu Boden.
Dann klingelt es. Normalerweise würden hier jetzt alle rausstürmen, auf den Pausenhof der Schule in Berlin-Kreuzberg. Aber heute bleiben die 24 Schülerinnen und Schüler der zehnten Klasse sitzen. Ali streift seinen verängstigten Gesichtsausdruck ab. Er fragt in die Runde: „Wie fandet ihr die Szene? Ist das ein guter Vater?“ Jetzt ist er wieder der selbstbewusste Workshopleiter mit den breiten Schultern.
Um ihn herum sitzen die Jugendlichen, drei tragen Kopftuch, zwei Baseball-Caps. Die Tische sind zur Seite gestellt, die Stühle zu einem Kreis zusammengeschoben.Heute gibt es keinen Unterricht, denn die Heroes sind zu Besuch. „Heroes“, so nennt sich ein Neuköllner Verein, der mit Jugendlichen über Sexismus, Selbstbestimmung, Autorität und Gewalt spricht. Und der „gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“ kämpft, wie es auf der Heroes-Webseite heißt. Viele der Freiwilligen sind Muslime.
Die Heroes sind immer zu zweit. Alis Kollege Rona spielt heute den Vater. Unterstützt werden sie bei ihrem Schulbesuch von dem Psychologen Ahmad Mansour und der Gruppenleiterin Eldem Turan.
Ali ist 23 Jahre alt und studiert Betriebswirtschaft. Obwohl er offen zu seinem Engagement steht, möchte er seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung stehen sehen. Seine Eltern kommen aus dem Libanon, er wuchs in Berlin auf. Zuerst in der Gneisenaustraße in Kreuzberg. Als dort die Mieten stiegen, zog die Familie nach Neukölln, mittlerweile wohnen sie noch weiter außerhalb.
Jetzt steht er wieder im Neuköllner Hinterhof seiner Kindheit, um seine Geschichte zu erzählen. Es hat sich nichts verändert, sagt er. Dort drüben die Sitzecke, ganz hinten am Zaun, an dessen Metallspitzen man sich leicht die Klamotten aufreißen kann, und hinter dem der Schulhof mit dem einzigen Fußballfeld im Kiez liegt. „Hier saß ich mit den Jungs aus dem Viertel, Araber, Türken, Deutsche“, erzählt er. Die Dinge, über die er heute bei den Heroes diskutiert, waren damals Tabus. „Der Begriff Ehre zum Beispiel fiel dauernd, jeder bezog sich darauf. Ich habe aber nie darüber nachgedacht, was ich wirklich darunter verstehe.“
Ehre. An diesem schillernden Begriff kristallisieren sich viele der Moralvorstellungen, mit denen auch die Jugendlichen in der Kreuzberger Schule konfrontiert sind. Ali fragt in der Klasse nach: „Was ist denn das überhaupt, Ehre?“ Ein Mädchen antwortet selbstbewusst: „Meine eigene Ehre ist meine Jungfräulichkeit.“ Ein Junge sagt: „Meine Schwester und die Familie.“ – „Was meinst du damit? Was hat deine Schwester damit zu tun?“ Ali bewertet die Antworten der Jugendlichen nicht. Er fragt nur nach. „Ich muss auf meine Schwester aufpassen!“ Selbstbewusst und fordernd hat sich der Schüler auf seinem Stuhl aufgerichtet. „Mädchen können doch selber entscheiden“, sagt ein Junge von der anderen Seite des Kreises. Alle verfolgen die Diskussion, das Thema geht sie alle an.
Die Party-Frage
„Wenn ein Mädchen auf eine Party geht, ist das gefährlich für sie“, sagt jetzt ein anderer Junge. Als die Diskussion immer hitziger wird, schaltet sich die Heroes-Gruppenleiterin Eldem Turan ein. „Also ich fühle mich echt beleidigt, wenn ich dich so reden höre.“ Turan dreht sich zu dem Schüler um, spricht ihn direkt an. „Ich gehe oft auf Geburtstagspartys von Freunden. Ist das falsch?“ Sie vertritt die Perspektive der Mädchen und bezieht persönlich Stellung.
Auf der anderen Seite des Stuhlkreises beginnen einige Schülerinnen, miteinander zu tuscheln. „Was meint ihr dazu?“, fragt Turan. „Über ein Mädchen wird sofort gelästert, wenn sie mit einem Jungen unterwegs ist. Über die Jungs nie. Das ist echt voll unfair“, sagt ein Mädchen verärgert. „Heutzutage ist man schon eine Schlampe, wenn man eine Leggins anhat“, stimmt ihre Freundin zu. Die beiden blicken die Jungs herausfordernd an.
In der Kreuzberger Schulklasse kann man wie in einem Mikrokosmos studieren, wie Geschlechterrollen und Wertvorstellungen über Generationen tradiert werden. „Wir geben Vorstellungen von dem, wie Frauen und Männer sich zu verhalten haben, weitgehend unhinterfragt an unsere Kinder weiter“, sagt Nina Degele. Sie ist Professorin für Soziologie an der Universität Freiburg. Eine Frau gelte schnell als Schlampe, wenn sie mit mehreren Männern flirte, sagt Degele. Das gleiche Verhalten sei bei Männern dagegen weitgehend akzeptiert.
Im Hinterhof seiner Kindheit klettert Ali am Abend, an dem er seine Geschichte erzählt, über den Zaun. Wie früher. „Wer ist der Mann im Haus, wenn ich nicht da bin?“ Den Satz hat er auch von seinem Vater gehört. Der Vater erwartete von ihm, auf seine Zwillingsschwester aufzupassen, erzählt er. Auch wenn er heute anders denkt, versteht er doch seinen Vater. Er findet seine eigene Position, bricht aber nicht mit dem Vater. Oft diskutieren sie miteinander, das Darüberreden ist Ali wichtig.
Wenn er für die Heroes vor der Klasse steht, helfen ihm diese Erfahrungen. Er registriert sofort, wenn sich bei den Jugendlichen etwas tut. Viele werden verlegen, wenn sie merken, dass sie das, was sie sagen, das, was für sie immer normal und richtig war, gar nicht richtig begründen können. Ali zeigt ihnen die Widersprüche, ohne ausdrücklich zu sagen, dass es welche sind. Er hat denselben Prozess durchgemacht, den er nun bei anderen anstoßen will. Und die Jugendlichen identifizieren sich mit ihm. „Allein schon, dass ich reinkomme und sage: ‚Ich bin Ali, ich bin Araber und ich bin für Gleichberechtigung‘, verändert etwas bei den Jugendlichen.“
Ein Blick auf die jüngste bildungspolitische Debatte in Baden-Württemberg zeigt, dass die Arbeit der Heroes in dieser Hinsicht keineswegs eine Aufgabe ist, die nur der muslimische Teil der Gesellschaft zu bewältigen hat. Im Januar unterschrieben fast 200.000 Menschen eine Petition gegen ein Vorhaben der grünroten Landesregierung in Baden-Württemberg, sexuelle Vielfalt als Unterrichtsthema zu verankern. Insbesondere bekennende Christen befürchten eine „sexuelle Umerziehung“ der Kinder, wenn Lehrer in der Schule erwähnen, dass es nicht nur Heterosexuelle gibt.
Gegen Schubladen
Neben den Workshops mit Jugendlichen bieten die Heroes auch Weiterbildungen für Lehrerinnen und Lehrer an. Das sei unbedingt notwendig, sagt Ali. In den Schulen falle ihm immer wieder auf, wie pauschal die Jugendlichen aus muslimischen Familien in eine Schublade gesteckt würden. Die Lehrer sollten sich mehr mit den Hintergründen beschäftigen, findet er. Während die Heroes mit den Schülerinnen und Schülern diskutieren, sind die Lehrer dabei, dürfen sich aber nicht einmischen. Einmal habe eine Lehrerin nach einem Workshop zu der gesamten Klasse gesagt: „Gott sei Dank bin ich nicht eine von euch“, erzählt Ali. Dieses pauschale Wir-und-Ihr-Denken macht ihn wütend.
„Ich will nicht in diese Schublade gesteckt werden“, sagt er. Auch aus Sätzen wie diesen speist Ali seine Motivation, sich bei den Heroes zu engagieren. „Es wird immer nur über Ehrenmord und Zwangsheirat geredet. Nie darüber, was gut läuft.“ Er hat sich deshalb gefreut, als ein Junge neulich zu ihm sagte: „Zeig denen, dass wir nicht so sind.“
Nach dem Vater-Sohn-Rollenspiel in der Kreuzberger Schule fragt Ali in die Runde: „Wie hättet ihr euch in meiner Situation gefühlt?“ Ihm ist es wichtig, vor allem bei den Jungs anzusetzen. Das sind die Brüder, von denen gefordert wird, auf ihre Schwestern aufzupassen. Und sie werden auch einmal Väter sein. Dann lässt er die Jugendlichen in der Runde diskutieren, ob es fair sei, dass Mädchen weniger dürfen als Jungs. „Ist es draußen wirklich so gefährlich für Mädchen? Geraten nicht gerade Jungs viel häufiger in Schlägereien?“
Ein Schüler erklärt, dass Mädchen von Jungs angemacht würden und es deswegen für sie gefährlich sei, auf Partys zu gehen. An dieser Stelle provoziert Ali gern ein bisschen. Man könnte doch die Jungs zu Hause einsperren, schlägt er vor, dann könnten die Mädchen sicher ausgehen. Da lacht die ganze Klasse.
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