Auf den grau gestrichenen Holzdielen reihen sich Matratzen an Isomatten. Überall liegt die gleiche Bettwäsche, rot-blau kariert. „Das sieht sehr schön aus“, sagt Helga Barton, eine kleine Frau, weiße Bluse, weiße Haare. Jede Woche kommt die 75-Jährige in ihre Kirche, mittwochs und sonntags. Seit drei Wochen verwandelt sich die Hamburger St.-Pauli-Kirche abends in einen Schlafsaal. Und Helga Barton findet das gut.
Die 80 Männer, die sich hier nachts mit karierten Decken zudecken, stammen aus verschiedenen Ländern Westafrikas. Sie kamen als Wanderarbeiter nach Libyen. Als dort der Krieg ausbrach, flohen sie nach Italien. Etwa zwei Jahre ist das her. Italien bekam damals Geld von der Europäischen Union, Unterstützung für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien. Im Januar lief das Programm aus. Die Behörden gaben den Flüchtlingen 500 Euro und ein EU-Touristenvisum. Dann schickten sie sie nach Norden, in die Länder, die sonst die Flüchtlingsfrage gern den Mittelmeerländern überlassen. 5.700 machten sich auf die Reise, 300 von ihnen kamen nach Hamburg. Ohne Arbeitserlaubnis landeten viele auf der Straße.
„Unsere afrikanischen Gäste“, sagt Pastor Sieghard Wilm, wenn er von ihnen spricht. Vor drei Wochen redete er im Radio über ihre Situation. Und davon, dass das die Hamburger nicht kaltlassen könne. Nur ein paar Stunden später, Wilm kochte gerade sein Mittagessen, klingelten einige Flüchtlinge bei ihm. Der Pastor öffnete die schweren Türen seiner Kirche.
Das Gebäude ist nicht groß, aber es hat auch keine fest verankerten Bänke. Abends kann man daher die Stühle an den Seiten des Kirchenschiffs stapeln. „Auch andere Kirchen und Moscheen nehmen Menschen auf“, sagt Wilm. „Aber die wollen nicht an die Öffentlichkeit. Aus Angst vor rechten Übergriffen und vor der Presse.“
Unter denen, die jede Nacht ihr Lager hier aufschlagen, ist Amadou Doumbia. Er kommt aus Mali und ist gläubiger Muslim. „Die Ungewissheit ist das Schlimmste“, sagt Doumbia auf Französisch. Er sitzt auf dem Platz vor der Kirche, teilt seine Zigarette. In Libyen arbeitete er auf dem Bau. „Ich wollte Geld verdienen, um zu heiraten“, erzählt er. In Mali war das schwer. Aus Libyen floh er aus Angst vor rassistischen Übergriffen. Schwarze standen bei libyschen Rebellen unter Generalverdacht, Söldner Gaddafis zu sein.
Alles nach Plan
Damit der Kirchenbetrieb trotz der Umnutzung weitergeht, gibt es einen strengen Zeitplan. Morgens um sieben gehen die Türen auf, bis neun gibt es Frühstück. Noch verschlafen legen die Männer ihre Decken zusammen, fegen den Boden: Aus dem Schlafsaal wird wieder eine Kirche. Auf einer Pinnwand neben dem Altar laufen die Organisationsfäden zusammen. Auf einer Liste steht, welche Helfer und Flüchtlinge sich jeweils um Frühstück oder Abendessen zu kümmern haben. Nachbarn bieten medizinische Sprechstunden und Deutschkurse an: Es ist ein Alltag nach Plan.
Die St.-Pauli-Kirche steht direkt an der Elbe, nicht weit von den Landungsbrücken. Um die Kirche herum gibt es Rasen und viele Bäume. Zwischen den Stämmen sind Leinen gespannt. Im Wind flattern Pullis, Hosen, T-Shirts. Die Nachbarschaft hat einen Wäschedienst organisiert. Im Schatten der Bäume frühstückt Andreas. Er kommt aus Ghana. Seinen Nachnamen möchte er nicht nennen. „Die EU behandelt Flüchtlinge sehr schlecht“, sagt er auf Englisch. „Man bekommt keine Chance zu arbeiten oder sich zu integrieren.“ Andreas kann gut mit Menschen reden. Vielleicht haben ihn die anderen deswegen zum Sprecher gewählt. Er zeigt auf ein großes Zelt neben der Kirche. „Hierher kommen die Leute, um sich zu informieren, hier ist immer jemand.“ „Embassy of Hope“ nennen sie das Zelt.
Auch Andreas arbeitete in Libyen auf dem Bau, sechs Jahre lang. Dann wurde er verhaftet. „Soldaten zwangen mich, an Bord eines Fischerboots zu gehen.“ Auf dem EU-Afrika-Gipfel 2011 hatte der damalige libysche Staatschef Gaddafi der EU gedroht, die gemeinsame Flüchtlingspolitik aufzukündigen. Dann werde der „christliche weiße“ Kontinent Europa „schwarz“ werden, sagte Gaddafi. Für Andreas bedeutete das zweieinhalb Tage Horror. Mit 1.250 Menschen überquerte er das Mittelmeer, dicht an dicht in einem viel zu kleinen Boot, dessen Motor dauernd versagte. Es gab kaum Wasser, nichts zu essen.
Andreas spricht ruhig und überlegt. Zwei Jahre war er in Italien, verlorene Zeit, wie er sagt. Überbelegte Lager, keine Arbeitserlaubnis. Jetzt ist er hier. Nach Deutschland wollte er, weil man sich hier mit Englisch gut verständigen kann. „Das ist wichtig.“ Er schaut hinüber zu einer Gruppe Afrikaner. Sie sitzen auf Bänken um ein Flipchart herum. „Es ist viertel vor zwölf“, sagen sie im Chor, Deutschstunde in Kirche.
An diesem sonnigen Sonntagmittag kommen ständig Nachbarn vorbei. Sie bringen Kuchen, Zahnbürsten, Kleidung. Sie wollen ihre Zustimmung zeigen. Pastor Wilm verbringt viel Zeit vor dem Informationszelt. Wenn man ihn fragt, warum er sich so engagiert, verweist er auf die Weihnachtsgeschichte. „Auch das ist eine Fluchtgeschichte.“ Er sieht müde aus. Der 47-Jährige hat ein paar anonyme Drohanrufe bekommen, aber die Gemeinde stehe hinter seiner Entscheidung. „Es geht jetzt erst mal darum, den Alltag zu bewältigen“, sagt er.
Die Bezirksversammlung des Stadtteils Altona verabschiedete ein Moratorium – mit den Stimmen der CDU, gegen die der SPD. Sechs Monate geschieht nun wohl erst mal nichts. Aber der SPD-geführte Senat bleibt bei seiner Position: Die einzige Möglichkeit sei eine Abschiebung nach Italien. Da sei die Rechtslage eindeutig, sagte SPD-Innensenator Michael Neumann.
In der Kirche kümmert man sich lieber um Menschen als um Paragrafen. Eine alte Dame kommt zur Tür herein. „Ich war gestern schon hier. Heute habe ich mein iPad mitgebracht.“ Sie zeigt auf ihre Tasche. „Vielleicht möchte jemand seine Mails checken.“ In der Stadtteilzeitung habe sie von dem Camp gelesen und sich auf den Weg gemacht: „Ich weiß noch, wie es uns 1943 gegangen ist.“
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.