Jetzt auch noch die Schulter. Gregor Gysi liegt in einem Berliner Krankenhaus und wartet darauf, operiert zu werden. Beim Skifahren in Tirol Anfang Februar war der Fraktionschef der Linkspartei während einer Abfahrt auf die linke Schulter gestürzt. Die Bänder zwischen Schlüsselbein und Schulterband sind zerrissen. Es ist wie ein Sinnbild: Dem 65-Jährigen entgleiten die Dinge, er kann sie nicht mehr zusammenhalten. Gysi hat den Abend seiner politischen Karriere erreicht. Die sollte eigentlich ein glanzvolles Ende finden, angesichts all dessen, was er für seine Partei getan und ihr untergeordnet hat – seine zwei Ehen und seinen Körper: eine Operation am Gehirn und einen Herzinfarkt hat er überstanden.
Aber erst wehrte sich ein Teil der Partei gegen ihn als alleinigen Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl; gleich sieben Parteimitglieder wurden ihm in einem Spitzenteam zur Seite gestellt. Und während er im Krankenhaus in Berlin liegt, hat die Staatsanwaltschaft Hamburg begonnen, gegen ihn zu ermitteln. Seine Immunität als Bundestagsabgeordneter wurde aufgehoben, und erste Unionspolitiker fordern seinen Rücktritt als Fraktionschef. Der Vorwurf: Er habe eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben.
Die Staatsanwaltschaft in Hamburg bezieht sich auf ein Vermerk aus der Stasi-Unterlagenbehörde, in dem zwei MfS-Offiziere darüber berichten, dass Gysi ihnen über ein Spiegel-Interview im April 1989 Auskunft gegeben habe. Das widerspräche der eidesstattlichen Erklärung Gysis, er habe „zu keinem Zeitpunkt über Mandanten oder sonst jemand wissentlich oder willentlich an die Staatssicherheit berichtet“. Bei den Ermittlungen geht es um eine Formulierung, nicht darum, ob Gysi Mandanten an die Stasi verraten hat. Was eigentlich nicht der Rede Wert erscheint, bedroht nun doch alles, was Gysi erreicht hat.
In der DDR folgte Gysi dem Willen seines Vaters, der Kulturminister war, und trat in die SED ein. Der junge Mann mit der Rundbrille und dem nach hinten wandernden Haaransatz wird Rinderzüchter, Jurist, Chef des Ostberliner Rechtsanwaltskollegs und schließlich Chef des Rats aller 15 Anwaltskollegien der DDR. Gysi verteidigt Regimegegner und nutzt seine Kontakte. Gegen den Vorwurf, als Stasi-Spitzel gearbeitet zu haben, verwahrt sich Gysi bis heute. Das habe er gar nicht nötig gehabt, dank seines Drahts zum Zentralkomitee der SED, sagte er einmal.
Zum Wendepunkt seiner Karriere wird der 4. November 1989. Fünf Tage vor dem Mauerfall betritt Gysi auf dem Alexanderplatz ein Holzgestell und faltet sein Manuskript auseinander. „Liebe Freunde, ich spreche eigentlich frei. Ich hab’s mir diesmal aufgeschrieben, damit ich auch danach noch weiß, was ich gesagt habe“, sagt er und die Leute lachen. Gysi hatte sich dafür eingesetzt, dass die Kundgebung genehmigt wurde. Als er die Anwesenden zur „größten Demonstration in der Geschichte der DDR“ begrüßt, brandet der Applaus von 500.000 Leuten auf.
Nach dem Mauerfall ist Gysi der letzte Vorsitzende der SED. Er will eine andere DDR, eine, in der es Rechtssicherheit und Freiheit gibt, aber er will die DDR erhalten und den Sozialismus. Für die Medien im Westen gilt der Reformer als Hoffnungsträger – bis zur Wiedervereinigung. Später gilt er dann seinen politischen Gegnern als „Wolf im Schafspelz“, noch später als netter Mann in der falschen Partei.
Gysi wird Chef der PDS, Fraktionschef, schließlich 2002 Finanzsenator in Berlin. Den Posten wirft er nach nicht einmal einem halben Jahr hin. Für den Bundestagswahlkampf fällt er aus – die PDS scheitert an der Fünfprozenthürde. An Gysi hängt die Partei. 2005 wird er wieder Spitzenkandidat, organisiert zusammen mit Oskar Lafontaine die Vereinigung von WASG und PDS und wird erster Fraktionschef des Wahlbündnisses Die Linke.
Doch schon seit 1992 verfolgen ihn Verdächtigungen, er habe der Stasi zugearbeitet. In der PDS haben viele eine politische Heimat gefunden, die Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi gewesen sind. Doch das Interesse, das auch Gysi nachzuweisen, ist besonders groß: Schließlich steht er wie kein anderer für all jene, die „gute Seiten“ der DDR in Erinnerung halten.
Und so ist die Debatte über seine Vergangenheit stets auch eine ideologische Schlacht, als die Vorwürfe in den Wahljahren 1998, 2005, 2009 aufkamen. Auch jetzt steht wieder eine Bundestagswahl bevor. Gysi hat sich bisher stets erfolgreich vor Gericht zur Wehr gesetzt. Und diesmal erwartet selbst Richard Schröder, Vorsitzender des Beirats der Stasi-Unterlagenbehörde, dass die Ermittlungen ins Nichts führen werden. Doch all die Abwehrschlachten und Konflikte haben Gysi verändert. Vor ein paar Monaten veröffentlichte der Stern ein Porträt mit dem Titel „Politik. Macht. Einsam“, in dem Gysi als „gesundheitlich und persönlich beschädigter Mensch“ bezeichnet wurde, als „einsamer und alter Mann“.
Gysi selbst tut jedenfalls nicht mehr das, was andere von ihm erwarten. Auf dem Göttinger Parteitag verweigerte er sich als Vermittler, hielt eine Wutrede und riskierte gar den Bruch mit Oskar Lafontaine. Zum Jahresauftakt der Partei in der Berliner Volksbühne plauderte er auf dem Podium eine halbe Stunde mit Regisseur Dieter Wedel über dessen Filme. Die Botschaft: Gysi steht jetzt über den Dingen. Vom Krankenbett aus teilte er nun über Facebook mit: „Selbstverständlich wird das Verfahren wie damals eingestellt werden, da ich niemals eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben habe.“
Benjamin von Brackel schreibt im Freitag meist über die Linke Die Debatten über die Vergangenheit von Gregor Gysi sind stets auch ideologische Schlachten. Zufälligerweise ist meist Wahlkampf
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