Siegried Krause konnte es gar nicht glauben, aber sooft er auch den Computer hochfuhr und nachsah: über das kaiserliche Telegrafenamt stand nirgendwo etwas geschrieben. Unzählige Male war der frühere Bahn-Projektleiter an dieser Ecke in Berlin-Mitte am früheren Telegrafenamt vorbeigeschlendert. Und Krause wusste: Vom Kaiserreich bis in die dreißiger Jahre führte eine Telegrafenverbindung von Kalkutta über Berlin bis nach London – und zwar über dieses Ziegelgebäude! Aber weder über das Gebäude, in dem heute die Telekom sitzt, noch über die Telegrafenlinie konnte er in der Wikipedia etwas finden. Also fasste der Rentner einen Entschluss: einen eigenen Eintrag verfassen.
Ein gutes Jahr später sitzt der 69-Jährige an einem Kaffeetisch im Erdgeschoss eines Hochhauses in Berlin-Mitte, einem Mehrgenerationenhaus, in dem sich der Seniorencomputerclub trifft. Zwei weitere Rentner, die Wikipedia-Einträge verfassen, sind auch gekommen. „Zehn Wochen habe ich an meinem ersten Artikel geschrieben“, sagt Krause. Neben ihm sitzt eine junge Frau und nickt anerkennend. Cornelia Trefflich koordiniert die Anfragen für das „Projekt Silberwissen“, das zum Ziel hat, Senioren wie Siegried Krause für die Arbeit an der Wikipedia anzuwerben.
Denn Wikipedia hat ein Problem: Einerseits verfolgt das Onlinelexikon den Anspruch, eine Enzyklopädie für die ganze Gesellschaft zu sein. Andererseits sind die Autoren vor allem 30- bis 45-jährige Akademiker. Nur etwa neun Prozent sind Frauen. Aber auch Senioren seien stark unterrepräsentiert, sagt die Wikimedia-Mitarbeiterin.
Lebenserfahrung einbringen
Dabei würden Senioren dringend gebraucht, nicht nur weil die Zahl der Autoren seit ein paar Jahren wieder zurückgeht. Auch können ältere Menschen ihre Lebenserfahrung und ihr Allgemeinwissen mit einbringen. „Junge Leute sind sehr spezialisiert“, sagt Günter Schlepps und wendet sich seinen beiden Altersgenossen zu. „Neulich stand ich an einer Theke und habe gesagt: Geben sie mir ein Pfund – und als Antwort kam: ‚Was ist ein Pfund?‘“
Anders als digital natives, die mit Smartphones, Facebook und Twitter aufwachsen und oft täglich etwas im Netz posten, dauert es schon mal mehrere Wochen, bis die Senioren ihre Artikel einstellen. Für seinen Telegrafenverbindungsartikel hat Krause die Eisenbahnbibliothek aufgesucht und Bücher gewälzt, hat an dem Text gefeilt, bis er sich sicher war, dass alles stimmte. Erst dann hat er ihn freigegeben. Diese Sorgfalt bewahrt die Senioren vor dem, was Wikipedia-Anfänger oft abschreckt: heftige Kritik und Änderungswünsche. „Es kam erstaunlich wenig Kritisches“, sagt Schlepps.
„Bei norwegischen Wasserfällen gibt’s eben nicht so viel Kritik wie bei Einträgen zum Islam“, sagt Burchard von Braunmühl, ein ehemaliger Professor für theoretische Informatik. „Ich würde mich schon schwer schämen, wenn etwas falsch wäre, was ich geschrieben habe.“ Bisher hat der 71-Jährige nur Artikel ergänzt, vor allem solche über Mathematik. Für mehr habe ihm die Zeit gefehlt, „Rentnerstress“ nennt er das, und auch die anderen beiden nicken. Ehrenämter, Kinder, Enkelkinder, Arztbesuche, Reisen – auch nach Berufsende füllt das die Leben der drei gut aus.
Sollte von Braunmühl aber mal Zeit finden, dann würde er gerne einen Artikel über Primzahlen verfassen. Denn gerade den Artikeln über Mathematik sehe er an, dass sie meist von jungen Leuten geschrieben worden seien, die ihr gerade angelerntes Wissen weitergegeben haben – alles nicht falsch, aber ungefiltert und ohne Gewichtung wiedergegeben, anstatt es pädagogisch aufzubereiten. „Was nützt es, wenn dort der Satz von Euler steht, ihn aber niemand versteht?“, fragt von Braunmühl.
Als Cornelia Trefflichs Kollegen von Wikimedia Anfang 2011 die über-50-Jährigen in Berlin anwerben wollten, hielten sie den Seniorencomputerclub für ein ideales Reservoir. Von den etwa 50 Mitgliedern sind aber gerade mal drei hängen geblieben. Was den meisten fehlte, war die Lust und auch die Fähigkeit zum Formulieren.
So treffen sich die drei Senioren jeden dritten Montag im Monat in dem Hochhaus an der Spree, besprechen ihre Fragen zu Programm und Inhalt oder recherchieren an den Rechnern – die allesamt auf dem neuesten Stand sind. Einmal sei ein 80-jähriger ehemaliger Kfz-Ingenieur aufgetaucht, um sein Patent für einen Viertaktmotor ohne Ventil einzustellen. Nachdem der Eintrag dann aber in der Wikipedia veröffentlicht war, ist er nicht mehr wiedergekommen.
Einträge für die Tochter
Wer Wikipedia-Autor wird, der verfügt meistens über ein Spezialwissen oder eine Passion, die andere nicht haben. Bei Krause war es sein Wissen über Bahn und Technik, bei von Braunmühl war es die Mathematik, bei Günther Schlepps war es seine Tochter.
Die war vor über 20 Jahren nach Norwegen emigriert und arbeitet seither in einem Touristenbüro. Über 30-mal hat Schlepps seine Tochter besucht. Vergangenes Jahr setzte sich der ehemalige Außenhandelswirtschafter dann das erste Mal nach zehn Jahren wieder an einen Computer. Ein paar Monate später stand sein erster Eintrag in der Wikipedia – zu Sarpsfossen, einem Wasserfall nahe dem norwegischen Wohnort seiner Tochter. „Meine Tochter findet das großartig“, sagt der 73-Jährige stolz.
Inzwischen sitzt er mit den anderen vor Rechnern im hinteren Teil des Raumes. Schlepps sitzt dicht vor dem Bildschirm, die Zeigefinger tippeln auf der Tastatur. Ein Flachbildschirm hängt an der Wand, hier zeigt von Braunmühl den anderen technische Kniffe, heute zur Erinnerung noch mal die Aufrufstatistik. Krause hat die Statistik seines Telegrafenverbindungsartikels aufgerufen und zeigt auf den 24. August 2011, als der Text 6.000-mal angeklickt wurde.
Für die Senioren im Berliner Computerclub ist es eine Genugtuung, ihr Wissen, das sie ein Leben lang angesammelt haben, weitergeben zu können. Und Wikipedia ist für sie ein Ansporn, auch wieder Neues zu lernen. Wenn nur nicht die Zeit immer so knapp wäre ...
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