Neulich hat ihn wieder sein Ehrgeiz gepackt. „Ein schwieriger Fall“, sagt Michael Hermann, während er im Keller eines Berliner Restaurants steht. Irgendwo über der Damentoilette, da muss die Schwachstelle sein, überlegt er, da müssen sie herkommen: die Mäuse.
Hermann ist Schädlingsbekämpfer. Er versteht sich als Spurenleser, seine Arbeit als Detektivarbeit. Wo kommen die Nager her? Wo ist die Öffnung? Ein Loch, in das ein Finger passe, reiche schon aus, dass Mäuse durchkriechen können, sagt er. Mäuse und andere Nagetiere machen dem promovierten Biologen zufolge ein Viertel seiner Fälle aus. Zufrieden ist er erst, wenn er die Tiere gefunden hat, und das kann auch mal dauern. „Ich bin selbstständig und kann im
d kann im Zweifelsfall sagen: Ich bleibe eine Stunde länger“, sagt der 47-Jährige.Ein Schädlingsbekämpfer dieser Tage hat dabei nicht mehr viel mit dem Kammerjäger von früher gemein. Er muss eine Ausbildung von drei Jahren absolvieren und lernt mehr über den Aufbau und die Sanierung von Gebäuden als über die effektivsten Tötungswerkzeuge. Doch nicht nur der Beruf hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Ein geradezu epochaler Bruch findet derzeit auch in der Welt der Mäuse statt: Das Ende der Jahrtausende alten Beziehung zwischen Mensch und Hausmaus neigt sich seinem Ende zu.Wie bei der RatteSeitdem sich der Mensch vor 12.000 Jahren sesshaft machte, Äcker bebaute und Vieh weiden ließ, breitete sich die Hausmaus Seite an Seite mit ihm aus. Von Indien kam sie über Zentralasien nach Mittel- und Westeuropa. In den Pferdeställen und Getreidespeichern fand die Maus immer genügend Futter.Aber die Bauernhöfe alter Tage verschwinden, ebenso die Futterstellen, die Löcher und Durchgänge in den Häusern. Kühlschränke und Konserven, in denen alles Essbare unerreichbar bleibt, sind der Horror für die Nager. „Die Zeit der Hausmaus ist vorbei“, sagt der Schweizer Wildbiologe Jürg Paul Müller. Der Karlsruher Mäuseexperte Harald Brünner vergleicht die Situation mit jener der Hausratte. Auch Rattus rattus sei extrem an den Menschen gebunden gewesen. Inzwischen ist sie fast ausgestorben, weil Neubauten versiegelt, Altbauten saniert und Nahrungsquellen verschlossen wurden. Im Freien, vermutet Brünner, habe die Hausratte keine Resistenz gegen Kälte entwickeln können, weil sie sich zu sehr an den Lebensraum der Menschen gewöhnt habe. Wenn man in Städten heute noch eine Ratte sieht, dann ist es meist die robustere Wanderratte (Rattus norvegicus), die den Kulturfolger Hausratte durch ihre Unabhängigkeit aussticht.Der Hausmaus gehe es nun ähnlich. „Sie wird immer seltener“, sagt Diplombiologe Brünner. Wenn er auf Exkursionen rund um seine Heimatstadt Karlsruhe gehe, müsse er lange suchen, ehe er mal eine finde. Auf der Roten Liste der bedrohten Arten steht die Mus musculus deswegen aber nicht. „Sie ist nicht geschützt, jeder kann sie totschlagen“, sagt Brünner.Die Wand hinaufZu sehr ist noch das Bild des Nahrungskonkurrenten und Schädlings in den Köpfen. Auf die felligen Untermieter können die meisten gut verzichten, abgesehen vielleicht von Schädlingsbekämpfer Hermann, der dann seiner Arbeit beraubt würde. Aber so weit wird es nicht kommen. Auf den leeren Platz im Haus rückt eine andere Mäuseart nach, ein echter Überlebenskünstler: die Waldmaus.Jürg Paul Müller hat vor ein paar Jahren die Leser des Bündner Anzeigers aufgefordert, ihm Fotos von Hausmäusen zu schicken, was viele dann auch taten. „Ich hatte es irgendwie geahnt“, sagt Müller. „Auf sämtlichen Fotos war nicht die kleine graue Hausmaus zu sehen, sondern die etwas bunter gefärbte Waldmaus, welche immer mehr deren Platz einnimmt.“Was Apodemus sylvaticus so erfolgreich macht, ist ihre Anpassungsfähigkeit. Anders als es ihr Name vermutet, lebt die Waldmaus auf dem freien Feld. Wenn die Böden im Winter gefrieren, nistet sie sich gerne in Schuppen oder Gebäuden ein, bis der Frühling kommt. Ihr Aktionsradius ist viel größer als der der Hausmaus, wenn Gefahr droht, kann sie das Haus sehr schnell wieder verlassen. Mit dem langen Schwanz balanciert sie oder nutzt ihn als Kletterhilfe. Am Efeu klettert sie die Hauswand hinauf, einfangen lässt sie sich selbst von Katzen nur schwer. Mit den großen Hinterfüßen stützt sie sich ab, springt und hüpft – „wie ein Känguruh“, meint Müller. „Sie ist perfekt angepasst an die dritte Dimension.“Eine Herausforderung für Hermann. Sein erstes Werkzeug, das er in solch einer Situation zückt, sind Pappschächtelchen. In diesen Boxen liegen Köder wie Haferflocken oder Fettstückchen, die ein besonders perfides Gift enthalten: Blutgerinnungshemmer. Die Medikamente töten die Tiere schleichend, indem sie das Herz zunehmend überlasten und verletzte Mäuse innerlich verbluten lassen.Um die Ecke gedachtDoch je länger Waldmäuse in menschlichen Behausungen wohnen, desto genauer lernen sie auch , was sie essen können und was nicht. Aus den Zwischenböden, den Nischen und dem Platz hinter den Bodenleisten kriechen sie vor allem nachts hervor, wenn sie sich sicher fühlen – und mit ihren großen, an die Dunkelheit angepassten Augen besser sehen können. Wenn ein Nestgenosse stirbt, weil er von einem Köder gefressen hat, machen die anderen einen Bogen um das Fressen. Darum sind die meisten Gifte der Schädlingsbekämpfer so speziell: Sie wirken erst nach ein paar Tagen, damit die Mäuse keine Lunte riechen.Keine gute Idee ist es, die Waldmäuse in Nachbars Garten oder in der Hecke über der Straße auszusetzen – sie finden leicht wieder zurück; Biologen nehmen an, dass sie sich am Magnetfeld orientieren, aber sicher wissen sie es nicht. Versuche an Rennmäusen haben gezeigt, wie gut sich Mäuse Strecken einprägen und selbst um die Ecke denken können. Schickt man sie durch ein Labyrinth im Zickzack, rennen sie den direkten Weg zurück, wenn man die Barriere entfernt hat. Mit ihren großen, muschelförmigen Ohren können sie auch ausgesprochen gut hören: Alle Mäuse verständigen sich vor allem über Ultraschalllaute, die der Mensch nicht hören kann. Wissenschaftler der Vetmeduni Vienna haben herausgefunden, dass Männchen Mäusedamen mit Balzgesängen umwerben (Link zur Hörprobe), so wie es auch die Vögel tun.Weil die Waldmäuse so gut angepasst sind, lassen sie sich nur schwer mit Schlagfallen, Lebendfallen und der Hauskatze vertreiben. Und wenn einer ganzen Familie der Garaus gemacht wurde, kommen neue Nager von außen nach. Denn im Gegensatz zur insulär lebenden Hausmaus hausen die Waldmäuse in großen Populationen, verteilt im Wald, auf Feldern oder in Parks. „Die Waldmaus ist eine große Kolonisatorin“, sagt Müller.Im Keller des Berliner Restaurants hat Michael Hermann die Schwachstelle gefunden: eine fehlende Endkappe. Durch die Rohröffnung konnten die Nagetiere hierher eindringen. Trotz aller Spürleidenschaft kommt Hermann hin und wieder ins Grübeln. „Die Tiere tun mir auch schon manchmal leid“, sagt er. Er denkt an den Fall zurück, als er einen Köder ausgelegt hat und ein paar Tage später zum Einsammeln zurückkam, eine tote Maus liegen sah, direkt daneben eine zweite. „Ich konnte genau erkennen, dass sich das andere Tier zum Sterben rangelegt hat, da macht man sich schon Gedanken: Mäuse haben auch Gefühle; da gewinnt man Respekt vor dem Leben.“ Die meisten Schädlingsbekämpfer seien eher sensibel, sagt Hermann, das müsse man aber heutzutage in dem Job auch sein. Es hat sich wirklich viel getan in letzter Zeit, nicht nur bei den Mäusen.Benjamin von Brackel hatte in seiner Wohnung kürzlich selbst Besuch von Waldmäusen. Er hofft, der Frühling und die Nachbarskatze haben sie wieder verjagt.
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