Der kleine Ponijao krabbelt den halben Tag durch die Landschaft. Mal sitzt er in der Lehmhütte, mal planscht er im Fluss, dann wieder ist er in der Weidenlandschaft Namibias unterwegs. Er ist nicht allein: Ein Kamerateam begleitet den Kleinen, es filmt ihn für die Dokumentation Babys. Darin wird später zu sehen sein, wie Ponijao seine kleine Hand in das Maul eines Hundes steckt. Auch, wie ein anderer Hund, der drei Mal so groß ist wie er, ihm das Gesicht abschleckt. Niemand springt herbei, aus Angst, dem Kind könne etwas passieren. Und das Baby? Schließt die Augen und streckt die Zunge heraus, um es dem Hund gleichzutun.
Nicht wenigen Vätern und Müttern würden angesichts von so viel Nachlässigkeit die Haare zu Berge stehen. Viel leichter fol
ichter folgt es sich daher den Eltern von Mari, einem von drei weiteren Babys im Film: Das Mädchen wächst in der Großstadt Tokio auf. Tags wird es unter Aufsicht in Spielgruppen bespaßt und sonst von den Eltern inmitten großer Mengen kindgerechten Spielzeugs in der sicheren Wohnung behütet.So wie Mari geht es jedenfalls auch vielen Kindern in Deutschland. Sie wachsen in einer Sicherheitszone auf. Aus ständiger Angst um die Kleinen scheuen Mama und Papa keinen Aufwand: Sie installieren Babyphones in den Zimmern, überziehen Möbelkanten mit Gummischonern und verbarrikadieren Treppen mit Gittern. Auf Ausflügen ins Grüne in den Wald sind die Kleinen stets unter Aufsicht. Selbst auf sicherheitsgeprüften Spielplätzen lässt man sie nie aus den Augen. Was auch seine guten Gründe hat: Eine Kindheit, wie sie Ponijao führt, ist in Deutschland unmöglich, selbst im Vergleich zur Kindheit von Opa und Oma hat sich vieles verändert: Die Welt ist unübersichtlicher, schneller geworden. Vor den damit verbundenen Gefahren müssen Kinder geschützt werden.Rausch auf der RutscheNur: Wo hört der Schutz auf, wo fängt die Überbehütung an? Forscher vom Queen Maud University College for Early Childhood Education in Trondheim haben Kinder auf Spielplätzen in Norwegen, England und Australien beobachtet. Projektleiterin Ellen Sanseter kommt zu dem Schluss: „Wer nicht die Möglichkeit zum riskanten Spiel hat, der wird nie erfahren, dass er mit Angst erzeugenden Situationen umgehen kann“.Kinder würden von sich aus das Richtige tun. Sie entdeckten ständig Neuland, das außerhalb ihrer Erfahrung und Kontrolle liegt. Was sie antreibt, ist der Nervenkitzel. Der Hirnforscher Gerald Hüther glaubt, dass eine leichte, produktive Unruhe im Gehirn entsteht, wenn das Kind vor einer Herausforderung steht; es habe das Bedürfnis, das Problem zu lösen und schaffe sich die Erleichterung erst, wenn die Herausforderung genommen sei und sich wieder Ruhe und Harmonie im Gehirn ausbreite. Botenstoffe lösten einen kleinen Rausch aus, und die Verschaltungen im Gehirn verstärkten sich.Dieser Antrieb ist offenbar größer als jedes Sicherheitsbedürfnis. Und wenn die Klettergerüste nicht hoch genug oder die Rutschen zu flach sind, dann schaffen sich die Knirpse selbst Herausforderungen, indem sie Purzelbäume auf Spielgeräten schlagen oder zu dritt auf Schaukeln steigen. „Egal wie sicher die Ausrüstung ist, das kindliche Bedürfnis nach Aufregung scheint sie dazu zu animieren, es gefährlich zu nutzen“, stellen die Forscher aus Trondheim fest. Indem Kinder klettern, rennen, raufen, auf Entdeckungstour gehen, nahe am Wasser, Feuer oder an Hängen spielen, entwickeln sie ihrem Alter gemäße Körperfähigkeiten und schulen ihre Wahrnehmung. Gleichzeitig lernen sie, Risiken zu bewerten. Sandseter und ihre Kollegen bringen es auf die Formel: „Je mehr Erfahrung, desto geringer die Risiken.“ Sie empfehlen, Spielplätze nicht etwa sicherer zu machen – sondern unsicherer.Damit wird ihnen der Widerstand der meisten Eltern wohl sicher sein. Denn viele von ihnen meinen es einfach zu gut: Da steht die Mutter immerzu griffbereit unter dem Klettergerüst, um den Sohn aufzufangen, da fährt der Vater die Tochter jeden Tag mit dem Auto in die Schule. Manche Eltern lassen ihr Kind überhaupt nicht alleine vor die Haustür, und andere sehen in ihren Sprösslingen gar ein Projekt, am besten ist es hochbegabt und den anderen Kindern voraus. Statt im Wald herumzutoben, buchen die Eltern für ihre Töchter und Söhne Sprach- und Musikkurse oder begleiten sie zu Logopäden und Ergotherapeuten – aus Angst, das eigene Kind könnte in der Entwicklung hinterherhinken. Die meisten dieser Eltern haben dabei selbst ganz andere Erfahrungen gemacht: Sie wurden als Kind genommen wie sie waren. Die Erziehung lief mehr oder weniger nebenbei.Risikofaktor GummimatteBefüttert wird der Sicherheitswahn gewiss auch durch die mediale Dramatisierung von Gefahren. Doch hat zwar der Straßenverkehr samt der anhängenden Gefahren zugenommen, aber die vielbeschworene Bedrohung durch Sexualstraftäter nimmt statistisch eher ab. Trotzdem macht der Trend zu mehr Sicherheit selbst vor Spielplätzen keinen Halt. Weil die Betreiber oft schon verklagt werden, wenn sich ein Kind das Knie aufschürft, rüsten sie die Spielplätze massiv um – mit weniger und niedrigeren Gerüsten und dicken Matten unter den Spielanlagen. Die unerwartete Folge: Kinder verletzen sich unter Umständen nur häufiger, wie es der Londoner Professor für Risikomanagement, David Ball, auf Spielplätzen in Großbritannien und Australien beobachtet hat. Nachdem dort Gummimatten unter die Geräte gelegt wurden, brachen sich in der Folge nicht weniger Kinder den Arm, sondern mehr. Weil sie die reale Gefahr nicht kennenlernten, meint der Wissenschaftler von der Middlesex Universität, überschätzten sie sich selbst.Mit der Übervorsorge wird Hüther zufolge aber mehr als nur die Entdeckerfreude enttäuscht: Weil dem Kind ständig etwas vorgeschrieben werde, entstehe Unordnung im Gehirn. Die Folge: Selbstzweifel und Angst. „Dann werden die gleichen Netzwerke aktiviert wie bei körperlichen Schmerzen“, sagt Hüther. Amerikanische Forscher haben schon vor Jahren nachgewiesen, dass ein Gefühl der sozialen Ausgrenzung dieselben Regionen im Gehirn aktiviert, wie unter körperlichen Schmerzen. Nicht viel anders ergeht es einem Kind, das um seine Spielerfahrung und die Anpassung an neue Situationen gebracht wird, die es seinen Fähigkeiten nach längst bewältigen könnte. Weil es das instinktiv weiß, rebelliert es gegen die Eltern, schreit sie an oder schlägt um sich. Schwächere Kinder ordnen sich unter und resignieren – oder suchen sich Ersatzbefriedigungen wie Fernsehen. Die Folge: Sie entwickeln kein Gefühl für ihre körperlichen Fähigkeiten. Und wenn sie doch mal alleine losrennen dürfen oder etwas ausprobieren, ist Experten zufolge das Risiko für Verletzungen höher.Freiheit für die HerdplatteUm Kinder vor Gefahren wirklich zu schützen, müssten sie von klein auf lernen, mit Risiken umzugehen, sagt Albert Wunsch, Erziehungswissenschaftler und Autor des Buches Die Verwöhnungsfalle. Je früher desto besser. „Freuen Sie sich eher, wenn Ihr Kind beim Kerzenanzünden die Erfahrung gemacht hat, dass die Flamme heiß ist.“ Seine Begründung: In den seltensten Fällen verletzen sich Kinder schwer. Aber sie machen eine lebenswichtige Erfahrung im Umgang mit Gefahren. Eine heiße Herdplatte sei in der Regel nicht lebensbedrohlich – dazu würden die Finger viel zu schnell reagieren, erklärt Wunsch. Was dem Kind jedoch gar nicht helfe, seien bloße „Pass-auf!“-Ratschläge. Besser sei der Transfer einer Erfahrung auf eine neue Situation – nach dem Motto: „Das offene Fenster ist kein Spielplatz, da kann etwas noch Schlimmeres passieren als damals mit dem Bügeleisen.“Ein gebrochener Arm sei weniger schlimm als die fehlenden Erfahrungen des Kindes, welche Angststörungen nach sich ziehen können, argumentieren auch die norwegischen Forscher. Indem Kinder überbehütet, Spielplätze kontrolliert und die Angst vor Unfällen geschürt werde, schaffe man eine ängstliche Gesellschaft. Das Gegenmittel: den Kindern eine stimulierende Umgebung bieten. Und die Eltern dazu anleiten, zwischen Risiken und Gefahren zu unterscheiden: Denn vor echten Gefahren sollten Eltern ihre Kinder schützen – Gefahren, die das Kind nicht sieht oder sehen kann, in denen es keine Wahl hat und blind ins Unglück läuft: Die Steckdose, die vierspurige Fahrbahn vor der Haustür oder der abgerichtete Hund in Nachbars Garten.Die norwegischen Forscher wollen weiter erforschen, welche Folgen Überbehütung und das Fehlen von riskantem Spiel konkret haben. Ein etwas trauriges Bild, das unsere Gesellschaft abgebe, findet Hirnforscher Gerald Hüther – wenn so etwas noch erforscht werden müsse.
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