Große Liebe: Mitford und Esmond Romilly, der Neffe Churchills, im Jahr 1940
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Eigentlich hatte Jutta Ditfurth gedacht, dass der Bruch mit ihrer adligen Verwandtschaft längst klare Sache sei – beiderseits. Nach und nach hatte sie sich von ihrer Vergangenheit entledigt: die Aufnahme in den Familienverband abgelehnt, ihren Adelstitel abgelegt und den Kontakt zur Verwandtschaft gekappt. Doch auf einmal bekommt sie Wutbriefe. „Die versuchen, mich auszustoßen, obwohl ich Jahrzehnte draußen bin“, wundert sich die 62-Jährige.
Ditfurth hat ein Buch über ihren Urgroßonkel Börries Freiherr von Münchhausen geschrieben. In Der Baron, die Juden und die Nazis behauptet sie unter anderem, dass die Mehrheit des ostelbischen protestantischen Adels schon im 19. Jahrhundert seiner antisemitischen Denkweise anhing. Adlige „B
ng. Adlige „Blutreinheit“ als Grundlage für den Rasse-Antisemitismus der Nazis? Adlige als massenhafte Mittäter ? Ein größerer Tabubruch ist in dem Milieu kaum möglich.Ein erstickendes GefühlSo konsequent wie die Mitbegründerin der Grünen haben sich nur wenige Adlige abgenabelt. Zu groß die Angst, Familie und Privilegien zu verlieren. Ein paar haben es dennoch gewagt. Etwa der Urenkel von Otto von Bismarck, Heinrich Graf von Einsiedel, der im Zweiten Weltkrieg in sowjetische Gefangenschaft geriet und zum Sozialisten wurde. Sein Wandel erklärt sich aus dem Extrem von Stalingrad. Was aber trieb solche an, die aus behütetem Elternhaus kamen, aber überzeugte Linke wurden?Im Fall von Jessica Mitford war es vor allem Langeweile. Sie stammte aus einer alten englischen Adelsfamilie. 1917 geboren, wächst sie in einer Festung in Swinbrook auf, die „einer privaten Irrenanstalt“ glich. Zum Alltag gehören Gouvernante, Nanny, Jagdgesellschaften. Die Kinder wachsen in „vollkommener Isolation von Gleichaltrigen auf“, schreibt Mitford in ihrer Autobiografie Hunnen und Rebellen. Meine Familie und das 20. Jahrhundert. Ziel der Erziehung ist die Vorbereitung der Töchter auf eine standesgemäße Heirat. Doch Mitford bedrückt „das erstickende Gefühl, dass Umgebung, Familie, Lebensführung für immer und ewig dieselben sein würden.“Während der Ausflüge ins Dorf sieht Mitford die zahnlosen Frauen und kann nicht verstehen, warum die so arm und sie selbst reich sind. Doch den Gedanken, das ganze Geld in England gleichmäßig unter alle aufzuteilen, tut ihre Mutter als „unfein“ ab.Einen ähnlichen Weg nimmt Jutta Ditfurth. Sie versteht schon als Kind nicht, warum der Knecht der Großeltern, den sie so gern hat, nicht mit am Tisch sitzen und ihre Freundin, ein Arbeiterkind, trotz besserer Noten nicht aufs Gymnasium darf. Doch ihre Eltern, die sich aus armen Verhältnissen hocharbeiten, verordnen ihr eine „Welt der Regeln“: Schule für höhere Töchter, Internat und Debütantinnenbälle, um sie vor „unpassendem Umgang“ zu bewahren.Was die beiden Mädchen zu Rebellinnen macht, ist ein Gespür für Ungerechtigkeit, Langeweile und Abenteuerlust. Während Mitford jeden Penny für ihr „Von-Zuhause-Fort-Konto“ spart, schwänzt Ditfurth die Schule und geht zu „Teach-Ins“ an die Uni.Anziehungskraft üben auf beide die Linken-Demo aus. Mitford hört in den dreißiger Jahren die Kommunisten im Hyde Park die Internationale trällern. In ihr Zimmer hängt sie sich eine Hammer-und-Sichel-Fahne, abonniert den Daily Worker. Ihren Vater nennt sie „feudales Überbleibsel“, ihre Mutter „Feindin der Arbeiterklasse“. Die Eltern schlagen ihr vor, als Kommunistin könne sie doch schon mal mit Bettmachen und Schuheputzen anfangen. „Mein Ballsaalkommunismus galt als durchaus harmloser Witz.“Ditfurth wird Ende der sechziger Jahre durch die Studentenproteste politisiert. Am 2. Juni 1967, als Benno Ohnesorg stirbt, notiert die 16-Jährige in Schottenrock-Schuluniform in ihr Tagebuch: „Sie haben einen von uns erschossen.“ Ditfurth erinnert sich: „Ich hatte eine Welt im Kopf, die war schon auf dem Weg woandershin; nur hat mir das keiner angesehen.“ Denn physisch ist sie noch in der alten Welt, wo im Haus ihrer Eltern das Deutsche Adelsblatt auf dem Wohnzimmertisch liegt und Briefe ihrer Tanten an sie mit „I.H.“ bedruckt sind – „Ihre Hochwohlgeborene“.Verachtung fürs alte LebenAls sie begreift, dass sie gar nicht heiraten muss, um etwas zu erleben, ist das wie ein Aha-Erlebnis. Um so zu werden, wie sie gerne sein will, beginnt sie zu studieren, schließt sich der undogmatischen Linken und dem Frauenzentrum an; ihre erste Rede vorm Bielefelder Rathaus hält sie gegen den Paragrafen 218. Die APO habe sie aus der „elitären Kaste“ getrieben, sagt sie. „Dafür bin ich mein Leben lang dankbar.“Mitford hatte diese Freiheit nicht. Ihr Tor zur neuen Welt ist ihre große Liebe Esmond Romilly, Neffe Winston Churchills – ein Rebell, republikanischer Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg. Mitford wollte schon lange selbst nach Spanien gehen, die Cocktailpartys und Jagdbälle hinter sich lassen. “Ich verachtete mich dafür, dass ich im Luxus lebte, versorgt und ausgehalten von genau den Leuten, welche die Nichtintervention möglich machten.“ Romilly und Mitford beschließen, heimlich ins Baskenland zu reisen. Mitfords Koffer packt noch ihre Nanny. 1937 heiratet sie Romilly, und beide berichten für Zeitungen von der Front. „Mir war seltsam zumute – wie einer Patientin, die nach einem größeren chirurgischen Eingriff, der mit einem entschiedenen Skalpellschnitt alle alten Bindungen, Gewohnheiten, Rituale abgetrennt hat, aus der Betäubung erwacht“, schreibt sie.Bereut haben ihren Weg weder Mitford, die zunächst in die Kommunistische Partei der USA eintrat und bis zu ihrem Tod 1996 Journalistin war, noch Ditfurth, die für die Ökologische Linke im Frankfurter Römer sitzt und als Autorin arbeitet. Nach ihrem jüngsten Buch haben sich einige adlige Frauen bei ihr gemeldet – und ihr erzählt, dass sie sich selbst das nie getraut hätten.
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