Ein Strommast kommt selten allein

Netzausbau In Bayern wehren sich Anwohner gegen riesige neue Stromtrassen. Droht nun der Bürgeraufstand gegen die deutsche Energiewende?
Ausgabe 10/2014

Als Ulrich Hampel am Frühstückstisch das Neumarkter Tagblatt aufschlägt, verschlägt es ihm die Sprache. Er liest von der „Gleichstrom-Trasse Ost-Süd“, sie soll etwa hundert Meter an seinem Haus vorbei gebaut werden. Das liegt auf dem 595 Meter hohen Dillberg in der bayerischen Gemeinde Berg, Oberpfalz. Blickt er durch das Wohnzimmerfenster ins Tal, sieht er eine unberührte Juralandschaft. Doch spätestens im Jahr 2022 könnten hier 75 Meter hohe Gittermasten dazukommen. Hampel hält das für „eine epische Zerstörung von Mensch und Natur“.

Das war am 17. Januar. Bereits am nächsten Tag taucht ein Kamerateam des Bayerischen Rundfunks auf und will eine Familie porträtieren, deren Niedrigenergie-Haus mit Solarkollektoren auf dem Dach in der Schneise der Trasse liegen würde. Da stehen schon alle hundert Einwohner des Ortsteils zum Empfang bereit und lassen ihrem Ärger freien Lauf. Auch Ulrich Hampel. Der 56-jährige Kaufmann hat noch nie zuvor demonstriert. Die Bayern seien ein ruhiges Volk, sagt der Mann mit dem Jägerhut. Doch jetzt geht er auf die Barrikaden, ruft in die Kamera, dass das Volk „obrigkeitsmäßig“ behandelt und „für dumm verkauft“ werde.

Gegen die 450 Kilometer lange Trasse von Oberfranken nach Schwaben gründet sich eine Bürgerinitiative. Es werden orange T-Shirts entworfen mit der Aufschrift „Trassenwahn 17.01.“, und Unterschriftenlisten ausgelegt. Hampel wird Sprecher der Bürgerinitiative. Jeden Tag kämen um die 100 Leute dazu, schätzt er, inzwischen hätten sich etwa 4.500 Menschen angeschlossen – die meisten aus den umliegenden Ortschaften. „Das ist ein richtiger Flächenbrand.“

Der Strom surrt und knistert

Bürgerinitiativen entstehen auch im Nürnberger Land, im Altmühltal und in Schwaben. Es sind Dutzende, über Nordbayern verteilt. Auch im Rheinland und in Niedersachsen formiert sich der Widerstand gegen die drei in Deutschland geplanten Überlandtrassen, die den Windstrom vom Norden in den Süden leiten und die Energiewende zum Erfolg bringen sollen.

Die Bürger merken nun am eigenen Leib, dass sie wirkliche Einbußen hinnehmen müssen für den Umbau der Energielandschaft: Leitungen, die sich in Sichtweite ihrer Gärten entlangziehen. Der Strom wabert, surrt und knistert. Viele sehen darin eine Bedrohung – nicht nur eine Beleidigung fürs Auge, sondern eine Gefahr für die Gesundheit. Sie fürchten, das elektromagnetische Feld der Freileitung erhöhe das Krebsrisiko für Kinder. Da hört der Spaß auf. Der Energieexperte Lorenz Jarass von der Hochschule RheinMain in Wiesbaden sieht durch den Netzausbau schon die Akzeptanz der Energiewende bedroht. Ist nun der Punkt erreicht, an dem die Bürger nicht mehr mitziehen? Ist das der Aufstand gegen die Energiewende?

Eine Leitung für Kohlestrom?

Der Schluss liegt nahe – doch das Gegenteil ist richtig: Die Bürger wollen ihre Energiewende retten. Zwar sind viele vor allem deshalb empört, weil die Stromtrassen ausgerechnet an ihrem Haus vorbei laufen sollen – wer will das schon? Meist stellen sich Betroffene wie Ulrich Hampel an die Spitze der Bewegung. Doch der Protest hat inzwischen Tausende erfasst, auch jene, die nicht unmittelbar berührt sind. „Der Widerstand ist viel fundierter“, sagt Jarass.

Die Beobachtung teilt auch Jan Hildebrand. Er ist Umweltpsychologe an der Universität in Saarbrücken und forscht seit Jahren zur Akzeptanz der Energiewende. Die sei nach wie vor sehr hoch – obwohl die Politik hauptsächlich über die Kosten und nicht über den Nutzen diskutiert. Heute hinterfragten die Bürger aber nicht mehr nur das „Wie“ von einzelnen Energiewendeprojekten, sondern mit erstaunlich großer Kompetenz in ihren Reihen auch das „Ob“. Und zwar vor allem dann, wenn sie sich von der Politik verschaukelt fühlen.

Hinter der Stromtrasse wähnen die Franken eine Mogelpackung, eine Garantie für den Weiterbetrieb der Braunkohlekraftwerke in Ostdeutschland. Die Leitung beginnt in Bad Lauchstädt bei Halle. Die Stadt ist mit ihren Umspannwerken heute schon ein Knotenpunkt in Ostdeutschland. Hier kommt der Windstrom aus dem Norden an, aber eben auch der Braunkohlestrom aus Mitteldeutschland. Laut Lorenz Jarass sollen die Atomkraftwerke in Bayern durch Kohlekraftwerke ersetzt werden. „Das wäre das Ende der Energiewende“, warnt er.

Ulrich Hampel sagt, die Stromtrasse werde „im Mantel einer grünen Energiewende“ getarnt. Er beteuert: Gegen die Energiewende sei „niemand hier“. Viele Gemeinden in der Region produzieren ohnehin mehr grünen Strom, als sie verbrauchen. Gerade deswegen sind die Anwohner erbost über die Trasse, die in die bayerische Stadt Grafenrheinfeld führt.

Mit zwei Bussen fahren Hampel und seine Mitstreiter Anfang Februar nach Nürnberg vor die Meistersingerhalle. Der Netzbetreiber Amprion hat zu einer Infoveranstaltung eingeladen. 120 Leute in ihren orange T-Shirts strömen aus den zwei Bussen in die Halle, auf einem ihrer Plakate ist ein Mädchen zu sehen, daneben die Aufschrift „Mord auf Raten“. Es sind drastische Worte, mit denen die Trassengegner auf die Gesundheitsrisiken aufmerksam machen wollen. Als die Sprecherin von Amprion zu reden beginnen will, schallt ihr ein Pfeifkonzert entgegen. Sie schließt den Mund, schluckt. Ulrich Hampel zieht sein Horn hervor und trötet los. Jemand ruft: „Mörder! Mörder!“

Erfolg der Trassengegner

Der Widerstand zeigt Erfolg: Wenige Tage später kündigt Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer einen Planungsstopp für die Stromtrassen im Freistaat an. Es soll geprüft werden, ob es die Gleichstromleitung auch nach der Reform des Erneuerbare-Energie-Gesetzes überhaupt noch braucht. Kurz vor den Kommunalwahlen im März kann der CSU-Chef keinen Ärger gebrauchen. Außerdem bedroht der billige Kohlestrom aus dem Osten die Gaskraftwerke und Ökoenergieanlagen im Freistaat.

SPD und CDU im Bund zeigen sich verärgert, doch Jarass hält Seehofers Entscheidung für richtig. Er fordert, die gesamten Pläne zum Netzausbau noch einmal zu überprüfen. Würde man die Windkraft in seltenen, extrem windreichen Zeiten abregeln, und außerdem auf den Transport des Braunkohlestroms verzichten, bräuchte man womöglich gar keine neuen Trassen.

Sollte das Ergebnis der Überprüfung doch anders ausfallen, sei die mittlere der drei geplanten Stromautobahnen durch Deutschland noch die sinnvollste, um die Windenergie vom Norden in den Süden zu bringen: Die 800 Kilometer lange Trasse soll von Schleswig-Holstein nach Bayern führen und bis zum Jahr 2022 fertig gebaut sein.

Selbst Ulrich Hampel würde eine Stromleitung durch seine Heimatregion hinnehmen, wenn sie der Energiewende diene – allerdings müsste es dann schon Kabel unter der Erde sein, sagt er. Schließlich will er weiterhin den Blick aus dem Wohnzimmerfenster genießen.

Benjamin von Brackel schreibt regelmäßig für klimaretter.info über die Energiewende

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