Am besten beginnt man die Geschichte vom Streit um das Tempelhofer Feld mit der Feldlerche. Mit seinem abgerundeten Schopf guckt das Vögelchen keck in die Luft. Fliegt es auf, trällert es los. Am Boden singt es nur leise; duckt sich und flitzt über das Gras – dabei hat es hier auf dem ehemaligen Flughafengelände im Zentrum Berlins nichts zu befürchten. Das Mittelfeld des riesigen Areals ist derzeit mit rot-weißem Plastikband umzäunt. Die Feldlerche soll vor Störenfrieden geschützt werden. Doch mit der Rücksicht könnte es bald vorbei sein. Am 25. Mai stimmen die Berliner parallel zur Europawahl über die Zukunft des stillgelegten Flughafens ab. Der Senat will den Rand des Feldes bebauen lassen. Damit blieben zwar gut zwei Drittel der Fläche frei, aber die Besucher müssten in die Mitte rücken – und damit der Feldlerche auf die Pelle. Das neue Gebot: Wohnungsbau statt Nestbau.
Das Tempelhofer Feld ist mehr als nur ein stillgelegter Flughafen – es ist zum Symbol geworden, um das die Berliner erbittert kämpfen, seit sie dessen Freigabe 2010 erzwungen haben. Ein 300-Hektar-Areal mitten in der Stadt, das weitgehend den Bürgern überlassen ist. Wo verschleierte Frauen picknicken neben dem deutschen Rentner, der seinen Bierbauch an den Sonnenstrahlen wärmt und Buben, die Drachen in der Luft kreiseln lassen. Auch die Weite ist einmalig: Zunächst fühlt man sich fast verloren, dann legt sich der Blick entspannt über die Fläche, registriert Fernsehturm, Moschee, Kirchen und Flughafengebäude in der Ferne. Augen und Geist beruhigen sich. Das hat einen Wert: Denn manche Kinder wachsen in den Häuserzeilen Berlins auf, ohne je Horizont zu sehen.
Es drohen riesige Riegel
Wenn man unterwegs ist mit Befürwortern und Gegnern einer Bebauung, zeigt sich Nervosität – für beide Seiten geht es um etwas. Den einen um ein Prestigeprojekt, Wohnraum in der Innenstadt und Stadtentwicklung. Den anderen um Freiheit, den Rest von Anarchie und Selbstbestimmung in der Metropole. Es geht nicht nur um das Tempelhofer Feld. Es geht um die Frage: Wie wollen wir leben?
In der Neuköllner Schillerpromenade kleben auf den Fensterscheiben einer Erdgeschosswohnung grüne „100% Tempelhof“-Aufkleber. Innen sitzen zwei Männer und drei Frauen auf Schreibtischstühlen und planen die finalen Wochen bis zum Volksentscheid. Am Boden stehen Kartons mit Flyern, Wäscheklammern und Ordnern. „Wie viele Flyer sollen wir nachdrucken?“, fragt ein junger Mann mit schwarzen Locken. „Viele. Vielleicht 20.000“, sagt Mareike Witt, eine junge Frau mit blassem Teint und freundlichem Gesicht. „Oberste Priorität – am Wochenende muss wieder was da sein!“ An der Wand hängt eine Karte des Flugfelds, auf die mit schwarzem Edding die geplanten Neubauten gemalt sind. Auf einem Packpapier steht der Plakatspruch „100% Tempelhofer Feld statt Großbaustelle mit Steuergeld“. Griffige Slogans müssen her, um die hohe Hürde zu schaffen. Damit der Gesetzesvorschlag der Bürgerinitiative beim Volksentscheid angenommen wird, müssen mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten zustimmen – also 630 000 Berliner.
„Manche stehen unter großem Druck, sie setzen sich alle für die Sache ein“, sagt Witt im Kampagnenbüro. Sie hebt einen Jutebeutel vom Boden, aus dem ein Megafon purzelt – zum Anpeitschen an den Infoständen. Mit einem Karton Flyer unter dem Arm verlässt die 32-Jährige das Büro, steigt in ihren roten Renault Clio und fährt zum Tempelhofer Feld. Sie parkt unter einem Plakat der Linkspartei: „Ja zum Tempelhofer Feld für alle! Stoppt den Senat: Nein zu Privatisierung und Spekulation!“, steht darauf. Seitdem sich Linke, Grüne und Piraten gegen den Antrag von Union und SPD gestellt haben und den der Bürgerinitiative unterstützen, sind die Regierungsfraktionen wieder am Zug.
Anfang April hatten sie deshalb zur Fahrradtour aufs Feld geladen. Noch bevor er auf sein rotes Rad stieg, wollte SPD-Fraktionschef Raed Saleh eines klären: „Parkbänke und Bäume – beides schließt die Initiative aus“, sagte er den versammelten Journalisten. „Das, was Sie gerade gesagt haben, stimmt so nicht“, entgegnete ihm eine aus der Bürgerinitiative. „Sie haben doch auch gleich die Möglichkeit, was zu sagen“, kantete Saleh zurück. Er mache sich stark für eine „behutsame“ Bebauung an drei Rändern. „Wir wollen bezahlbaren Wohnraum. Wenn man nur Privaten erlaubt, in bestimmten Gebieten zu bauen, dann kann man auch keine sozialen Mieten erwarten“, sagt er in eine Kamera des RBB.
Daran hat Mareike Witt so ihre Zweifel. Wie viele Sozialwohnungen überhaupt gebaut würden, sei unsicher. Womöglich würden die zusätzlichen Privatwohnungen am Ende nur noch mehr Spekulanten anlocken. Ein klares Bekenntnis zu Sozialwohnungen fehlt im Gesetzesvorschlag des Senats, der am 25. Mai ebenfalls zur Abstimmung steht. Aus dem Kofferraum ihres Clios packt sie Flyerstapel in ihren Jutebeutel und geht aufs Rollfeld. Es ist ein warmer Frühlingstag, auf den Wiesen liegen die Menschen, auf den Landebahnen sind sie auf allem unterwegs, was mindestens zwei Räder hat.
Viel Überzeugungsarbeit
Witt muss einem Skateboarder ausweichen, bleibt stehen und deutet auf den Rand einer Landebahn. „Hier hätten wir einen riesigen Riegel“, sagt sie. Bis zu zehn Stockwerke seien geplant. Neben ihr schiebt Julius Dahms sein Stadtfahrrad und trinkt ein Sternburger. Der 29-jährige Initiativensprecher mit dem Fünftagebart sagt: „Alles, was das Feld ausmacht, wird in dem Designerpark nicht mehr möglich sein.“ Nach dem Willen der beiden soll nur aufgestellt werden, was sich in den Charakter des Provisorischen einpasse. Bänke – ja, aber keine mit Betonfundament, Wasserflächen – ja, aber ohne Versiegelung, Baumpflanzungen – ja, aber nur im Außenbereich und vereinzelt im Zentrum. „Wir wollen keinen 100-Prozent-Stillstand, wie es der Senat behauptet“, sagt Dahms. Etwa das Allmende-Kontor, ein Gemeinschaftsgarten einer Bürgerinitiative, könnte vergrößert werden. Auch Gastronomie sei möglich. Andererseits wünschen sich manche Senioren oder Eltern konventionelle Parkbänke, neue Wege, feste Anlagen, Spielplätze. Die Einen wollen mehr Struktur, die Anderen fürchten den Ausverkauf.
Überzeugen müssen beide Seiten nicht nur die ans Feld grenzenden Viertel Kreuzberg, Tempelhof, Neukölln – sondern vor allem die anderen. Und an die kommt die Bürgerinitiative nur sporadisch heran. „Das ist alles ein Tropfen auf den heißen Stein“, gibt Dahms zu. Mareike Witt relativiert: Es sei nicht unwahrscheinlich, von den 237.000 Unterschriften aus dem Volksbegehren auf 630.000 Stimmen beim Volksentscheid zu kommen. Witt zumindest tut, was sie kann: Ihr jüngster Urlaub ist für den Wahlkampf draufgegangen. Aber das Flyerverteilen genieße sie – dann könne sie auf dem Feld sein, sagt Witt, während die Kirchenglocken 18 Uhr schlagen und ein milder Wind ihr die Haare zurückweht.
Normalität soll einziehen
Auch Raed Saleh weiß das Feld zu schätzen. In Raum 358 des Abgeordnetenhauses empfängt der SPD-Fraktionschef in seinem weitläufigen Büro mit den hohen Decken und dem Parkettboden. Ein Fenster steht offen, draußen zwitschern Vögel. Im Sommer und Herbst sei er fünf, sechs Mal dort gewesen, die Kinder hätten Drachen steigen lassen. „Ja, ich kann verstehen, dass man dort die europaweit einmalige Struktur im Herzen der Stadt erhalten will“, sagt er. So weit entfernt seien die beiden Seiten ja gar nicht voneinander, schließlich wolle auch er 230 Hektar als Freifläche festschreiben – eine Fläche größer als der Tiergarten.
Doch das Konzept ist ein anderes. Die SPD will die Fläche erschließen: Am Ring sollen Wohnungen entstehen, Schulen, eine Kita, die Landesbibliothek. Auch Gewerbeflächen. Das Leben auf dem Feld verlagert sich in die Mitte des Areals. Dort soll ein Regenrückhaltebecken entstehen samt Promenade und Erdwall, Fahrradwege, Parkbänke und Bäume. Anders gesagt: Normalität soll einziehen auf dem Feld. Ihm gehe es um eine grundsätzliche Frage, sagt Saleh: „Ist in Berlin perspektivisch noch Bebauung und Entwicklung möglich?“ Wie solle man in „womöglich liebgewonnenen Baulücken“ in der Stadt noch Flächen erschließen, wenn es nicht mal gelänge, auf dem leeren Tempelhofer Feld zu bauen?
Saleh will sozialen Wohnungsbau in „mindestens der Hälfte“ der Neubauten, keine Luxusvillen. „Wir müssen der Tendenz etwas entgegensetzen, dass die Innenstadt nur noch ein Ort ist für Menschen mit besserem Einkommen“, sagt der 36-Jährige. Angesprochen auf die Verkäufe von Tausenden landeseigenen Wohnungen in den vergangenen Jahren, sagt er: „Die Verkäufe waren falsch.“ Aber seit einigen Jahren würde die Stadt ja wieder ankaufen.
Bleibt die Frage, wem die Neubauten auf dem Feld zugutekämen. Dazu, aber auch zur Miethöhe könne er nichts Endgültiges sagen. Der Koalitionsparntner CDU setze sich für „Eigentum“ ein – also Privatwohnungen. Erst nach dem Planungsverfahren samt Bürgerbeteiligung wisse man Genaueres. Auf eines legt sich Saleh aber fest: Für den Fall, dass SPD und CDU beim Volksentscheid verlieren, würde die Koalition die Baupläne einstellen. „Dann ist das so“, sagt er. „Wir werden das Votum der Berliner befolgen.“
Schon versuchen manche, die noch nicht einmal gebauten Wohnungen zu ergattern. Wo man sich denn anmelden könne, würde sie häufig gefragt, erzählt eine Frau in einem Container auf dem Tempelhofer Feld, in dem sie für die Pläne des Senats wirbt. Bei der Frage nach der Feldlerche muss sie erst Papiere aus ihrer Tasche hervorziehen, die sie während einer Schulung bekommen habe. Sie blättert, bis sie auf einer Seite hängen bleibt und wandert mit dem Zeigefinger von oben nach unten: Ja, sagt sie dann, die Feldlerche müsse zum Teil umgesiedelt werden. Nach Brandenburg.
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