So ganz wissen die Delegierten am Morgen nach der Entscheidung noch nicht, was sie von dieser Sache halten sollen. Die Nacht von Samstag auf Sonntag war für viele kurz, das Frühstück fiel bei den meisten aus. Nun muss sich ihr Zustand wie das Erwachen nach einer durchzechten Nacht anfühlen. „Nach den Schockwellen von gestern Abend bin ich jetzt vorsichtig optimistisch“, sagt der Berliner Harald Werner, während er auf der Bühne in der Göttinger Lokhalle für den Parteivorstand kandidiert. Damit bringt er die Gemütslage eines großen Teils der Linken-Mitglieder auf den Punkt.
Viele ostdeutsche Delegierte auf dem Bundesparteitag sind enttäuscht, dass Dietmar Bartsch es nicht geschafft hat, Vorsitzender zu werden – auch wenn er nur knapp scheiterte. Für sie ist er eine Integrationsfigur, ein Aushängeschild der ehemaligen PDS, der nun nach Jahren des Wartens die sogenannten Reformer prominent an der Spitze der Partei hätte vertreten können. „Der gestrige Abend hat Verletzungen hinterlassen“, sagt Werner und meint damit wohl auch jenen Moment nach der Wahl von Bernd Riexinger, als Leute aus den Westverbänden die Internationale angestimmt und dazu den Text von „Ihr habt den Krieg verloren“ gesungen hatten. Das zumindest wollen viele Ostdeutsche so gehört haben.
Nun hätten sich seine Sorgen wieder gelegt, sagt Werner, weil die Reden von diesem Sonntagmorgen selbstkritisch und ruhig ausgefallen seien, keine Seite habe die andere unfair angegangen. Im Gegenteil, man entschuldigte sich sogar wie die Frau aus Riexingers Landesverband Baden-Württemberg, die den Tränen nah auf der Bühne stand und beteuerte: Das sei kein Siegeslied gewesen, sondern der Versuch, nach einem angespannten Tag Freude zu bekunden.
Ein Projekt, zwei Parteien
Nach diesem Bundesparteitag lässt sich konstatieren, dass eine unmittelbare Spaltung der Partei nicht mehr droht. Aber die tiefen Risse, die durch die Linke gehen, sind noch einmal klar und deutlich sichtbar geworden. Die Linke ist ein Projekt, das die große Mehrheit der Delegierten nicht aufs Spiel setzen will. So viel, so wenig lässt sich im Moment verlässlich sagen. Nun herrscht erst einmal Waffenstillstand, auch weil das neue Duo eine Kompromisslösung ist, mit der beide Seiten leben können. Mit Bernd Riexinger hat sich Lafontaines Lager mal wieder durchgesetzt, mit Katja Kipping sind nun auch die Reformer an der Spitze der Partei vertreten. Den beiden ist der Ernst der Lage klar, nun wollen sie einen Neuanfang initiieren und eine Befriedung herbei führen. Das eine Herkulesaufgabe zu nennen, dürfte untertrieben sein.
Denn die Partei besteht gut fünf Jahre nach ihrer Gründung eigentlich noch immer aus zweien. Niemand brachte das klarer auf den Punkt als Gregor Gysi, der Fraktionschef. Er hielt eine Rede, die so schonungslos und ehrlich ausfiel, wie man es in der Politik selten erlebt. Gysi hätte es sich einfach machen und die Personaldebatten mit Befindlichkeiten innerhalb der Partei begründen können. Er hätte sagen können, dass eine Spaltung in weiter Ferne und sich die Partei im Grunde einig ist, wie es die 95-Prozent-Zustimmung zum Grundsatzprogramm gezeigt hätte. Eine typische Mutmach-Rede, wie sie in Göttingen Oskar Lafontaine gehalten hat.
Westliche Arroganz
Gysi aber legte die Wunde frei: Der Prozess der Vereinigung sei nicht gelungen. Immer noch bestehe die Linke aus zwei Parteien, „Volkspartei“ und „Interessenpartei“, nannte er das, die naturgemäß ganz unterschiedlich funktionieren würden. Denn eine Volkspartei im Osten, die Wahlergebnisse von 20 bis 30 Prozent erziele, müsse sich mehr auf Regieren, Realitäten und Kompromisse einstellen als eine „Fünf-Prozent-Partei“ im Westen. Von der erwarte man, dass sie zugespitzt Interessen vertrete. Also Systemkritik betreibe. Statt diesen Unterschied zu akzeptieren, gebe es beiderseits Vorbehalte, gar „Hass“, das habe er in der Fraktion oft erlebt. „Eine bestimmte Kritik von Mitgliedern aus den alten Bundesländern erinnert mich an die westliche Arroganz bei der Vereinigung unseres Landes“, sagte Gysi. Wenn die Denunziationen weitergingen, wäre es besser, sich zu trennen. Gysi redete den Delegierten also ins Gewissen und stimmte sie für die Wahl einer „kooperierenden Führung“ ein.
Auch wenn das im Endeffekt gelungen sein mag, am Tag nach der Wahl von Bernd Riexinger steht den Anhängern des Bartsch-Lagers die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Steffen Bockhahn, Landeschef von Mecklenburg Vorpommern, erklärt mit mürrischer Miene, er könne mit Riexinger natürlich leben. Aber nun müsse der neue Vorsitzende vieles anders machen: „Einfach mal zuhören, sich beraten“, fordert Bockhahn ihn auf. Bernd Riexinger, Lafontaines Kandidat, hatte auf Bitte mehrerer West-Verbände erst spät seine Kandidatur erklärt, mit dem eindeutigen Ziel, Dietmar Bartsch als Parteichef zu verhindern. Dennoch will Bockhahn nun nicht ausschließen, dass Riexinger es zusammen mit Katja Kipping schaffen kann, die Partei wieder näher zusammenzuführen.
„Bitte lasst uns mit dieser verdammten Ost-West-Verteilung aufhören“, rief deshalb Katja Kipping den Delegierten auf dem Parteitag zu. Auch Riexinger sprach sich für ein Ende der Polarisierung aus; zuallererst wolle er nun mit denen sprechen, die ihn nicht gewählt hätten. Den Verdi-Chef von Stuttgart als bloßen Schoßhund Lafontaines, als zweiten Klaus Ernst abzutun, ist im Moment zu früh. Kaum jemand in der Partei kennt den Mann wirklich. Und Riexinger muss nun erst einmal beweisen, ob er sich von den Parteigranden emanzipieren und mehr erreichen kann als die 2,8 Prozent Wählerstimmen bei den Landtagswahl in Baden-Württemberg.
Hinter die Bühne
Zumindest die meisten der Delegierten konnte er in Göttingen überzeugen, dass er die Partei nicht mit platten Parolen und einer Basta-Politik führen will. Und sein Engagement während der Blockupy-Tage hat gezeigt, dass er einen Blick für Strömungen außerhalb der Partei hat. Für die 34-jährige Kipping gilt das gleiche. Auch in ihrem Politikstil hebt sie sich ab. Sie könne zwar nicht an die Lautstärke von Lafontaine und Gysi heranreichen, sagt sie, dafür aber eine neue Tonlage anbieten. Dass beide nicht die großen Namen sind, muss dabei kein Nachteil sein, wie es das Beispiel der Grünen gezeigt hat: Nach dem Rückzug von Joschka Fischer gewannen die in der Wählergunst sogar hinzu – und zwar mit ihrer Marke.
Wie aber kann eine Versöhnung in der Partei nun aussehen? Zumindest für das neue Führungsduo schien das schon geklappt zu haben. Hatte sich Kipping im Vorfeld des Parteitags noch gegen Riexinger als Partner ausgesprochen, so war nach dessen Wahl nichts mehr davon zu hören. Auf der Bühne stand sie neben dem Gewerkschafter und strahlte. Sie könne noch nicht viel sagen, beide müssten sich erst mal kennenlernen, sagte sie, packte ihren neuen Kollegen am Arm und führte ihn unter dem Lachen der Delegierten hinter die Bühne.
Nun umwirbt die SPD Bartsch
Alles in allem muss man beide nun als eine kleine Lösung bezeichnen. Zwar wurde die Chance für den von Kipping und Katharina Schwabedissen proklamierten „dritte Weg“ verpasst, nachdem Schwabedissen ihre Kandidatur zurückgezogen hatte – obwohl sowohl Landesverbände im Westen wie im Osten ihre Sympathie für diesen Weg bekundet hatten. Mit der neuen Führung Kipping/Riexinger können sich die meisten dennoch gut arrangieren. Zusammen mit dem neuen Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn, auch ein Reformer, ist die Parteispitze dann doch recht ausgewogen zusammengesetzt. Schwieriger wäre die Situation bestimmt gewesen, wenn Dietmar Bartsch sich durchgesetzt hätte und zusammen mit Kipping, die ja ebenfalls zum Reformer-Lager gehört, die Parteispitze gebildet hätte. Die Auflösung ganzer Landesverbände im Westen und die Rückwanderung von Gewerkschaftern zur SPD hätte das beschleunigt. Schwieriger wäre es auch geworden, wenn sich Sahra Wagenknecht für eine Last-Minute-Kandidatur entschieden und gegen Bartsch gewonnen hätte.
Der finale Show-Down war jedoch erst dann abgewendet, nachdem die Hamburgerin Dora Heyenn in der ersten Wahlrunde unterlag und Wagenknecht deshalb auf eine Kandidatur verzichtet hatte. Sie habe die Polarisierung nicht auf die Spitze treiben wollen. „Wenn ich eine Richtungsentscheidung gewollt hätte, hätte ich antreten müssen“, sagt sie. Stattdessen ist sie wieder zur Vizechefin gewählt worden. „Wir müssen einen Neuanfang schaffen ohne die alten Konfliktlinien“, sagt Wagenknecht.
Dass aber der Zauber des Neuanfangs und guter Wille auf Anhieb nicht alles löst, mussten Kipping und Riexinger feststellen, als sie Bartsch baten, für den Vorstand zu kandidieren – und der das ablehnte. Zwei Tage später wurde er dann von der SPD umworben. Die hat naturgemäß kein Interesse an einer Versöhnung der Linken. Auf das vergiftete Angebot reagierte Bartsch mit den Worten, er könne die Suche der SPD nach qualifiziertem Personal verstehen, stehe aber nicht zur Verfügung. Der Humor ist also zurück. Zu fragen bleibt aber, ob das Schlimmste schon überstanden ist.
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