Ihr Gehirn ist kleiner als ein Salzkorn, und trotzdem faszinieren Ameisen seit Jahrtausenden den Menschen. Auch heute noch versuchen Forscher von ihrem komplexen Sozialleben zu lernen: Stauexperten interessieren sich für den reibungslosen Verkehr auf Ameisenstraßen. Mediziner erhoffen sich therapeutische Tricks von Ameisenköniginnen, die bis zu 30 Jahre alt werden – hundertmal älter als das durchschnittliche Insekt. Und selbst Architekten haben ihre Freude an den Tieren: Eine argentinische Ameisenart etwa baut bis zu 30 Zentimeter hohe Klimaanlagen, mit der sie Pilze im Inneren des Baus belüftet.
Eine Ameise allein könnte natürlich kein solches Bauwerk errichten – die Kolonie als Superorganismus aber schon. Jede Ameise passt sich selbstlos in dieses komplexe System ein, erfüllt seine Aufgabe: Um die Kolonie vor Gefahr zu schützen, zögern Ameisensoldatinnen (Ameisenvölker sind fast vollständig weiblich) keine Sekunde, in den Tod zu gehen. Ältere Ameisen gehen freiwillig an die Front oder verlassen zum Sterben den Bau, um die Kolonie nicht zu belasten. Und: Alle Arbeiterinnen verzichten darauf, Eier zu legen und kümmern sich stattdessen um die Brut der Königin.
Eine harmonische Gemeinschaft von Altruisten? Lange Zeit dachte man so, doch mittlerweile wissen Forscher, dass in Ameisenkolonien auch jede Menge Zwist herrscht, und zwar Zwist der ganz groben Sorte: Es wird allen Ortens unterdrückt, überwacht und gemordet.
So hat man zwar längst eine Erklärung dafür gefunden, warum Ameisen auf ihre eigene Fortpflanzung verzichten. Charles Darwin hatte das mit der Selektion auf der Ebene der ganzen Familie erklärt; der englische Insektenforscher William D. Hamilton zog 1964 mit seiner Theorie der Verwandtenselektion nach: Demnach lohnt es sich für eine Ameise, auf die eigene Fortpflanzung zu verzichten und sich selbstlos um die Nachkommen eines Verwandten zu kümmern, wenn dadurch zusätzlich mehr Ameisenbabys produziert werden, als die selbstlose Ameise alleine hätte produzieren können.
Aber die Frage, ob sie das freiwillig tut, ist eine andere. Jürgen Heinze, Biologe an der Universität Regensburg, sagt: eher nein. Heinze beschäftigt sich seit Jahren mit dem Konfliktverhalten von Ameisen. Er glaubt, Arbeiterinnen verfolgen nicht immer die gleichen Interessen, da eine Kolonie in den seltensten Fällen von einem einzigen Klon abstammt. Manch eine Arbeiterin kann es daher reizvoll finden, den kurzfristigen Fortpflanzungserfolg dem langfristigen Nutzen der Gemeinschaft vorzuziehen. Würden die Königinnen aber tatenlos dabei zusehen, wie Arbeiterinnen selbst Eier legen, brächte das die ausgeklügelte Arbeitsteilung durcheinander und die Kolonie würde zerfallen. Um den Egoismus zu zügeln und die Kolonie zu erhalten, hat sich in der Evolution ein raffiniertes Überwachungssystem mit unterschiedlichen Repressalien entwickelt. „Das kann man mit einem Polizeistaat vergleichen“, sagt Heinze.
Ein doppeltes Spiel
In den kleinen Kolonien erledigt die Königin die Überwachung noch selbst: Wenn sie auf ihrer Patrouille eine Arbeiterin entdeckt, deren Eierstöcke entwickelt sind, drischt sie auf sie ein, verlangt von ihr Futter oder frisst deren Eier. In größeren Kolonien ist das zu aufwendig. Deswegen produziert die Königin spezielle Pheromone: ein Gemisch aus Kohlenwasserstoffen, das sich auf der wachsähnlichen äußeren Schicht der Ameisen löst. Je nach Fruchtbarkeit wechselt die Zusammensetzung; so wissen die Arbeiterinnen, wann sie sich der Königin unterzuordnen haben.
Legen die Arbeiterinnen trotzdem einmal Eier, werden sie augenblicklich von Nestgenossinnen attackiert – vor allem von jenen Arbeiterinnen, die nach dem Tod der Königin selbst als erste mit der Eiablage beginnen werden. Heinze zufolge spielen diese Arbeiterinnen ein doppeltes Spiel: Sie haben zwar die Gesamtproduktivität der Kolonie im Blick, aber gleichzeitig verfolgen sie das Ziel, an die Stelle der Königin zu treten, sobald diese stirbt. „Im Gegensatz zu früheren Überzeugungen sind soziale Insekten mit ihrem Überwachungssystem sicherlich kein gutes Vorbild für unsere Gesellschaft“, schreibt Heinze in Biologie in unserer Zeit.
Und nicht nur das Fußvolk – auch Königinnen bekriegen sich untereinander. Gründen mehrere von ihnen gemeinsam eine Kolonie, so ist es mit der Zusammenarbeit spätestens dann vorbei, wenn sich der Staat voll entwickelt hat. Es kommt nun zum Kampf, bis sich eine der Kontrahentinnen durchsetzt und die unterlegenen Königinnen auf Futtersuche schickt und deren Eier auffrisst. Es wird gekämpft, bis nur noch eine übrig bleibt. Wenn doch einmal mehrere Königinnen zusammen in einer Kolonie leben, so sind das meist Mutter und eine Jungkönigin, welche wieder zurück ins Heimatnest gekrochen ist und sich der Mutter unterordnet.
Mobbing unter Königinnen
Nur wenige Ameisenarten sind etwas toleranter. Etwa die kleinwüchsige Spezies Leptotorax acervorum: In einer Kolonie brüten mehrere Königinnen, die Eier werden in ähnlicher Stückzahl produziert und die Arbeiterinnen kümmern sich gleichmäßig um sie. Die Harmonie in diesen Königinnen-WGs endet jedoch abrupt, wenn sich die Umweltbedingungen verschlechtern: Im Norden Japans, in Alaska und in den Bergen Zentralspaniens findet man in den entsprechenden Kolonien nur jeweils eine Königin. Für mehr ist kein Platz. Andere Königinnen werden weggemobbt, verscheucht oder getötet.
Jürgen Trettin vom Insitutut für Zoologie der Universität Regensburg hat den Schaukampf der spanischen Ameisen beobachtet: Die Königinnen bauen sich voreinander auf, boxen mit ihren Antennen und reißen drohend die Kiefer auseinander. Damit klären sie die Hierarchie innerhalb der Kolonie. Die Drecksarbeit erledigen dann die Arbeiterinnen. Anhand von chemischen Signalen erkennen sie die unterlegene Königin und gehen auf sie los. „Wir haben mehrfach Arbeiter dabei beobachtet, wie sie gleichzeitig an den Antennen oder Beinen einer Königin zogen“, schreibt Trettin in der Fachzeitschrift BMC Ecology. „Diese ernsten Angriffe führten dazu, dass Königinnen vertrieben oder getötet wurden.“
Unruhe und Streit werden auch immer wieder durch die Männchen ausgelöst – selbst dann, wenn die Herren noch gar nicht geschlüpft sind. Grund ist das merkwürdige Verwandtschaftsverhältnis unter den Ameisen: Aus befruchteten Eiern schlüpfen nur die Weibchen, sie besitzen einen doppelten Chromosomensatz; die Männchen hingegen schlüpfen aus unbefruchteten Eiern, haben also nur einen einfachen Chromosomensatz. Die Folge: Während die Königin mit ihren Töchtern und Söhnen gleichermaßen verwandt ist, teilen die Schwestern mehr Gene untereinander als mit ihren Brüdern. Die Arbeiterinnen haben im Sinne der Fortbringung ihres Erbguts also ein Interesse, die Zahl der Männchen in einer Kolonie einzuschränken – und töten einen Teil der männlichen Brut. Die Königin dagegen ist an einem ausgeglichenen Verhältnis der Geschlechter interessiert, deshalb legt sie entweder relativ wenige befruchtete Eier oder aber sie tarnt das Geschlecht ihrer Nachkommen, um die Arbeiterinnen zu täuschen.
Männchen? Der Untergang
Sind die Männchen geschlüpft, beteiligen sie sich nicht wie die Arbeiterinnen an nützlichen Tätigkeiten, sondern warten auf die Erfüllung ihrer sehr übersichtlichen Aufgaben: Anstatt ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um nach Futter zu suchen oder das Nest zu verteidigen, harren sie schmarotzend der Gelegenheit, eine jungfräuliche Königin zu begatten und so Vater einer ganzen Kolonie werden zu können.
Während die geflügelten Männchen dabei friedlich bleiben, zum Hochzeitstanz ausschwärmen und bald nach der Paarung sterben, zeigen sich die ungeflügelten Männchen bisweilen ausgesprochen aggressiv: Im Buhlen um die Jungköniginnen des eigenen Nests beißen sie auf Konkurrenten ein, bis sie sich ihren Harem aufgebaut haben.
Stirbt die Königin, so kommt es vor, dass Arbeiterinnen in einem letzten Verzweiflungsakt unbefruchtete Eier legen – und Männchen produzieren. „Die Anwesenheit einer großen Anzahl von Männchen bei gleichzeitiger Abwesenheit von geflügelten Königinnen und jungen Arbeiterinnen ist ein sicheres Zeichen dafür, dass die Tage einer Kolonie gezählt sind“, schreiben Hölldobler und Wilson. Angesichts all der Scherereien, die durch die Männchen entstehen, wundert es nicht, dass in Südamerika eine ganz besondere Ameisenart entdeckt wurde: Sie hat die Männchen vollständig abgeschafft.
Benjamin von Brackel schreibt für den Freitag vor allem über Energiethemen. Er ist darüber hinaus aber auch ein begeisterter Beobachter von Flora und Fauna
Kommentare 9
Tja, da sieht man mal, dass diese kleinen possierlichen Tierchen auch nur profane Machtmenschen sind...oder ist es vielleicht umgekehrt? Altruismus scheinst wirklich nur als Utopie zu geben!
Hobbes und die Ameisen
Ich fand den Begriff "Polizeistaat" schon recht treffend. Allerdings würde ich noch weiter zurück in die Geschichte gehen und Thomas Hobbes sowie dessen Leviathan aufführen. Hobbes gilt als einer der bedeutenden Vertragstheoretiker, der den Naturzustand des Menschen - Krieg aller gegen alle - durch Vertragsschluss und Bildung eines Leviathan überwinden wollte. In diesem Leviathan schlossen sich die Menschen einer Gesellschaft zusammen, gaben dabei jegliche Souveränität an den Leviathan (ein Staat, verkörpert durch einen absolutistischen Herrscher) ab, um so in Frieden und Freiheit zu leben. Betrachtet man nun das Zusammenleben der Ameisen innerhalb der Kolonien, so sind parallelen zur Vertragstheorie des Thomas Hobbes unübersehbar. Vielleicht sollten sich künfitge Generationen von Biologen, Politologen, Soziologen und Philosophen gegenseitig befruchten und zusammen an wichtigen Fragen des Zusammenlebens der Menschen arbeiten. Bereits Luhmann nutzte für seine Systemtheorie die Kybernetik, um wichtige Inhalte für die Soziologie zu nutzen.
Nein, diese "Tierchen" sind eben keine "Machtmenschen" (Haucki) - auch nicht umgekehrt! Der Vergleich mit einem "Polizeistaat" ist auch nicht "treffend" (Tobi-Eiki).
Man muss ja sehen, dass diese, von und so empfundenen, Grausamkeiten, unter Tieren geschehen, die so gut wie kein Gehirn haben (oder gar keins? bin kein Biologe) und denen somit auch so etwas wie ein weiteres Reflexionsvermögen über ihr Tun abgeht. Sie bilden ja keine Kultur aus, die das Bisherige gegenüber einem Zukünftigen in Abwägung stellt. Sie folgen im Wesentlichen einem Mechanismus, der einzig das Weiterbestehen der Art, zunächst des Staates, verfolgt.
Wenn man schon einen Vergleich mit den Grausamkeiten der Menschheit bemühen will - was durchaus interessant ist -, so kann und müsste man fragen, warum die Menschen kraft ihres Denkvermögens und ausgeprägter Erinnerungsfähigkeiten nicht in der Lage sind, Grausamkeiten - die sie ja sogar als solche qualifizieren - zu umgehen!?
ich denke auch, dass diese Art der Darstellung eher von hemmungslosen Anthropozentrismus erzählt als von der realen psychischen Atmosphäre in einer Ameisenkolonie
Ich kann Lethe 20.01.2012,19:46 (... dass diese Art der Darstellung eher von hemmungslosen Anthropozentrismus erzählt ...") nur zustimmen. Läßt man zusätzlich alle wertenden Adjektive raus, erhält man ein wenig wirkliche Information. Das ist mühselig und der Autor hätte dies leisten müssen, ohne dabei den Leser zu langweilen.
" ... 'Im Gegensatz zu früheren Überzeugungen sind soziale Insekten mit ihrem Überwachungssystem sicherlich kein gutes Vorbild für unsere Gesellschaft', schreibt Heinze in Biologie in unserer Zeit. ..."
Vorbild nicht, aber sehr lehrreich. Denn auch in der menschlichen Gesellschaft funktioniert es so. Wie, das beschreibt u. a. Chomsky www.chomskyarchiv.de/artikel/consent-without-consent-unterstellte-zustimmung .
Daraus kann man lernen, dass alle Wissenschaften eben auch mit der Ideologie der Herrschenden durchsetzt sind, denn man muss sich fragen, woher die früheren Überzeugungen kamen.
Hallo miauxx
sicherlich haben Sie recht, wenn Sie behaupten, dass es diesen "Tierchen" lediglich um die Sicherung des eigenen Fortbestehens geht. Betrachten wir jedoch erneut diverse politische Theoretiker, so wird deutlich, dass es eben auch dem Menschen um die Sicherung des Überlebens sowie den Fortbestand des Existierenden geht. So argumentieren einige Theoretiker der Internationalen Politik (Kenneth Waltz, Neorealismus) und viele klassische Philosophen wie eben Thomas Hobbes, den ich bereits erwähnte. Vergleichen Sie den Naturzustand des Menschen bei Hobbes, so werden Ihnen viele Parallelen zu tierischen Lebensformen auffallen.
>>Daraus kann man lernen, dass alle Wissenschaften eben auch mit der Ideologie der Herrschenden durchsetzt sind,...
Ja. Wer einen Hammer hat, sieht überall Nägel und wer Untertan ist, sieht überall Herrscher Krieger.
Das sehen Menschen bei bei Wolfsrudeln so: Je nach Perspektive des Beschreibenden lebt das Rudel "unter" einem Herrscher, einer Herrscherin oder einem Herrscherehepaar.
Man kann es zwar auch einfach so beschreiben, dass die jeweils zwei Fittesten das Fortpflanzungpaar bilden. Und dass die natürlich auch bei der Jagd vornedran sind, als die Fittesten im Rudel.
Und dass das Rudel immer dafür sorgt, dass das Fortpflanzungspaar gut genährt ist, weil sie alle gesunden Nachwuchs wollen.
Diese Sicht ist aber weniger beliebt.
Dass ein Fortpflanzungsverzicht nach dem Vorbild vieler Tierarten eines grössten Probleme der Menschheit lösen könnte: Darauf scheinen die wenigsten Tierbeschreiber zu kommen. Das finde ich auch auch interessant, als Menschenbeobachterin.
Das mit der Zuweisung von Charaktereigenschaften halte ich auch für einen Trick, damit es sich spannender liest. Und das tut es ja auch. Toll geschrieben! Aber leider zu menschelnd. Dabei kann ich mir vorstellen, dass es so etwas wie ein spezielles "Ameisenbewusstsein" gibt, eine Art Gruppenbewusstsein, das sich jedoch vom menschlichen Ich-Bewusstsein entscheidend unterscheidet. Und diese Unterscheidung würde ich nicht einmal qualifizieren wollen, weil vermutlich da gar nichts zu vergleichen ist - ausser eben, dass (fast) jede Art ihr Leben erhalten will. Mit eigenen Mitteln und einem nicht vergleichbaren eigenen "Bewusstsein".
Dennoch müssen wir feststellen, dass keine lebendige Spezies so selbst-ausrottend ausgezogen ist, wie die menschliche Spezies. Insofern dürften wir kollektiv weder auf unser offenbar nur rudimentär vorhandenes Reflexionsvermögen ebenso wenig stolz sein wie auf unseren Selbsterhaltungstrieb. Uns reichen doch nicht einmal die derzeitigen natürlichen Bedrohungen. Wir sind doch als einzige Spezies darauf aus, viele weitere hinzu zu erfinden.
Also, diese Leistung muss uns das Tierreich erst einmal nachmachen!
Den kritisierten Antrophozentrismus finde ich eigentlich weder "unwissenschaftlich", noch finde ich, dass er nichts zum Informationsgehalt des Artikels beiträgt.
Beides kann man eigentlich doch nur finden, wenn man so in etwa die Haltung hat "das sind doch nur Ameisen mit einem kleinen Hirn" und "was bei den Ameisen passiert, ist für unsere tolle Kultur nicht relevant".
Das Gegenteil beider Haltungen ist dagegen richtig - Tiere allgemein, nicht nur Ameisen, stehen vor denselben Problemen, vor denen auch Menschen stehen.
Für diese Probleme finden sie Lösungen oder besser gesagt, sie sind die Lösungen - ob diese Lösungen nun mittels eines Großhirns erdacht wurden, oder durch ein evolutionäres Spiel, also durch fortschreitende Optimierung auf genetischer Ebene, hervorgebracht wurden, spielt für die Qualität der Lösung keine Rolle - der einzige Unterschied ist hier der des Mediums, in welchem die Problemlösung kodifiziert ist.
Dass solche Gesellschaften wie die der Ameisen, mit ihrem hohen, vorgeblich "altruistischem" Anschein in Wirklichkeit eher Terror für das Individuum bedeuten, ist daher von einigem Interesse finde ich - weil es zeigt, dass eben hoch organisierte Gesellschaften, die auf den Verzicht einzelner gründen, offenbar sehr anfällig für das Aufkommen gerade gegenläufiger Strategien sind.
Das kann man sehr wohl auch auf Menschengesellschaften übertragen, weil das Problem eine logische Form hat - es ist dabei egal, ob man von Ameisen oder Menschen redet.