In Tagen wie diesen greift Sahra Wagenknecht gerne zu Shakespeare. So falle es ihr leichter, mit Intrigen, Machtspielen und Existenzkrisen umzugehen, sagt sie. Dass sie selbst einiges gelernt hat, beweist sie am Sonntag in der Berliner Stadtmission. 1.000 Genossen der Linkspartei sind zu einer Strategiekonferenz gekommen, um von der Vizeparteichefin Klartext zu hören. So angriffslustig, so konfrontativ gegen Parteikollegen hat man sie tatsächlich selten erlebt. Für einen Moment ist sie die Hoffnungsträgerin der in sich tief erschütterten, im Macht- und Richtungskampf verschlissenen Partei – oder zumindest der Genossen, die ihr hier zujubeln.
Die Linkspartei sei noch nie in einer solchen Existenzkrise gewesen wie heute, erklärt die 42-Jährige. Dem „dramatischen Vertrauensverlust“ in der Bevölkerung seien „dramatische Niederlagen“ bei den Landtagswahlen gefolgt. Schuld seien vor allem jene vom Reformer-Flügel, fährt Wagenknecht im selben Ton fort, in dem sie auch den Kapitalismus geißelt. Die hätten sich auf Kosten der Partei profiliert und „selbstzerstörerische Debatten“ angezettelt. Aus dem Publikum nennt jemand den Namen Dietmar Bartsch. „Ja“, sagt Wagenknecht und geht den Reformer-Kandidaten für den Bundesvorsitz direkt an. Bartsch verhalte sich in etwa, als würde sie selbst sagen: „Der Bartsch ist ein Idiot.“
Mit ihren Attacken hat Wagenknecht die Kluft weiter aufgerissen zwischen dem Reformer-Lager um Bartsch und den Unterstützern von Ex-Parteichef Oskar Lafontaine, ihrem Lebensgefährten. Sie hat sich ganz in den Dienst ihres einstigen Mentors gestellt, der ihren Aufstieg zur Vizechefin in Partei und Fraktion maßgeblich gefördert hat. Dafür hat sie selbst auf Angebote verzichtet, etwa dem von Bartsch, die Partei gemeinsam zu führen.
Der Lafontainsche Streitwagen
Nur, plötzlich steht sie ziemlich allein da in diesem erbitterten Machtkampf. Denn am Dienstagabend zieht Lafontaine sein Angebot zurück, noch einmal Vorsitzender zu werden. Offenkundig hat der Parteigründer Bartschs Hartnäckigkeit unterschätzt, denn der will von seiner Gegenkandidatur einfach nicht lassen. Als auch Fraktionschef Gregor Gysi von Lafontaine abrückt, schmeißt der hin. Wagenknecht, die sich bedingungslos vor den Lafontainschen Streitwagen gespannt hat, bleibt nun nur noch die Gegenattacke: Sie drängt Bartsch, seinerseits auf seine Kandidatur zu verzichten.
Es sieht so aus, als könnte nun ausgerechnet die Frau zur tragischen Figur werden, der lange selbst beste Chancen auf den Parteivorsitz zugeschrieben wurden. Andere, die sich bisher zurückgehalten haben, stehen jetzt im Fokus, wie die Vizeparteichefin Katja Kipping und die nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Katharina Schwabedissen sowie die unbekannte sächsische Abgeordnete Sabine Zimmermann, die ebenfalls ihre Kandidatur angekündigt hat. Aber vielleicht will Wagenknecht auch gar nicht ganz nach oben.
Das Leben einer Berufspolitikerin wolle sie nicht führen, hat sie einmal gesagt. Für sie sei es Horror, nur noch von Termin zu Termin zu hetzen, ohne Zeit für eigene Gedanken zu haben, ohne Bücher zu lesen – und ohne überhaupt noch allein sein zu können.
Systemfragen
Da spricht die Sahra Wagenknecht von einst aus ihr, die seit dem Alter von drei Jahren ohne ihren Vater auskommen muss. Der Iraner muss damals in die Heimat zurück und verschwindet spurlos. Was ihr von ihm bleibt, ist das „h“ in der Namensmitte, die dunklen Haare und der Teint. Weil sie von anderen Kindern vermittelt bekommt, sie sei anders, weigert sie sich, in den Kindergarten zu gehen. Sie hört auf zu essen – der Grund, warum ihr später das Studieren verweigert wird. Immer mehr zieht sie sich in ihre Bücher zurück, lernt den Faust auswendig und arbeitet sich durch Hegel, Kant und Marx. Sozialen Kontakt hält sie lange Zeit nur noch zu ihrer Mutter.
1989, kurz vor der Wende, als die DDR zerfällt und viele den Absprung von der SED suchen, tritt Wagenknecht in die Partei ein. Sie will den Sozialismus reformieren, Politik gestalten, statt nur Bücher zu studieren und im Zynismus zu enden. Den Mauerfall empfindet sie als schlimmsten Tag ihres Lebens. In der PDS wird sie zum Aushängeschild der Kommunistischen Plattform, zur schönen Kommunistin mit den ewig-gestrigen Gedanken, die den Mauerbau für richtig und die DDR für das bessere System als die BRD hält. Selbst in ihrer eigenen Partei bleibt sie Außenseiterin. Gregor Gysi verhindert lange ihren Aufstieg.
Das ändert sich, als Lafontaine ihr Mentor wird, als die Partei nach links rückt und Wagenknecht ihr aus dieser Richtung entgegen kommt. Alten Ballast, die DDR- und Stalin-Beschönigungen wirft sie über Bord. „Das war Trotz und Verweigerung damals“, sagt sie heute. Die DDR will sie schon lange nicht mehr zurück. Ihr aktuelles Buch ist gar eine Hommage an die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack, die Wettbewerb und Maßhalten predigten. Das sieht sie als Zwischenstation auf dem Weg in den Sozialismus.
Dass sie in der Partei Rückhalt hat, zeigt ihr Auftritt in der Stadtmission. Die Reformer wollten politische Positionen weichspülen, sich der SPD anbiedern, aus der Partei eine „Light-Version“ machen, ruft Wagenknecht. „Bleiben wir dabei, die Systemfrage zu stellen, bleiben wir authentisch!“ Applaus brandet auf. Wagenknecht stolziert die fleischfarbene Treppe neben dem am Holzkreuz hängenden Jesus hinunter und setzt sich in die erste Reihe, während das rhythmische Klatschen anhält. Sie dreht leicht den Kopf nach hinten, lächelt, scheu und beglückt, dann steht sie auf und winkt einmal. „Das war die Bewerbungsrede für den Parteivorsitz“, sagt ein Linken-Mitglied und ist sich sicher, gerade einen historischen Augenblick miterlebt zu haben.
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