Schmutz im Ohr

Lärm Es müssen keine Flugzeuge sein: Auch alltäglicher Krach überfordert Psyche und Körper. Die Folgen zeigen sich manchmal erst nach Jahrzehnten
Füllhorn für Geräusche aller Art: Das Innenohr erscheint robust, ist aber fast hohl und verfügt über höchst sensibles Inventar
Füllhorn für Geräusche aller Art: Das Innenohr erscheint robust, ist aber fast hohl und verfügt über höchst sensibles Inventar

Foto: De Agostini/Getty Images

Früher konnte sich Ernst-Heinrich Scheuermann auch mal mit einem Buch in seinen Garten setzen. Doch seit dem Herbst ist das vorbei: Im Oktober wurde die Nord-West-Landebahn des Frankfurter Flughafens eröffnet, und wenn die Flugzeuge jetzt über sein Haus in Sachsenhausen düsen, versteht Scheuermann sein eigenes Wort nicht mehr.

Daran ändert auch das in der vergangenen Woche vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig beschlossene Verbot von Nachtflügen am Fraport nichts, denn das gilt nur zwischen 23 und 5 Uhr. Scheuermann wird weiter jeden Morgen um fünf vom ersten Flieger geweckt – bis er um sechs aufstehen muss, kann er nur noch dösen. Entsprechend gerädert fährt der Internist dann zur Arbeit in die Klinik.

Seit der Planung der Landebahn Ende der neunziger Jahre hat sich der ehemalige Oberarzt am Uniklinikum Frankfurt mit den Folgen einer solchen Lärmbelastung für den Körper befasst. Sein Fazit: Dauerbeschallung schadet der Gesundheit – wenn sich auch die Folgen manchmal erst nach Jahrzehnten zeigen. „Lärm ist ein heimtückisches Umweltgift“, sagt der Arzt.

Jeder zweite leidet

Mit dieser Erkenntnis steht er nicht alleine da. Kaum etwas zerrt so heftig an den Nerven eines Menschen wie penetranter Lärm. Von Fluglärm sind dabei mit 29 Prozent allerdings noch weit weniger Menschen betroffen als vom omnipräsenten Verkehrslärm, dem Störgeräusch Nr. 1: Einer Umfrage des Umweltbundesamtes zufolge fühlen sich 55 Prozent der Befragten von Straßenlärm belästigt, fast doppelt soviele wie von Fluglärm. Und immerhin 22 Prozent leiden unter Schienenlärm. Verkehrsminister Peter Ramsauer hat angekündigt, die Lärmschutzvorschriften zu prüfen. Was aber löst der Lärm im Körper aus, dass er die Menschen so aufbringt?

Kfz-Reifen und -Motoren sind Klangkörper und senden Schallwellen aus. Je mehr verdichtete Luftpäckchen pro Zeiteinheit heranrasen, desto höher steigt der Schalldruckpegel, der in Dezibel gemessen wird. Wie laut wir etwas hören, wird aber auch durch die Frequenz bestimmt: Tiefe Töne nehmen wir weniger stark wahr als hohe. Um die eigentliche Lautstärke zu definieren, misst man den Schalldruckpegel daher durch einen Filter, der die menschliche Hörfähigkeit näherungsweise simuliert. Das drückt die Maßeinheit dB (A) aus. Eine Uhr tickt mit 10 dB (A), eine Hauptverkehrsstraße lärmt nachts mit bis zu 70 dB (A).

Die Ohrmuschel fängt den Schall auf und leitet ihn über den äußeren Gehörgang bis ans Trommelfell, das in Schwingung gerät. Im luftgefüllten Mittelohr verstärken die Knöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel die Schallwellen und bugsieren sie ins mit Lymphflüssigkeit gefüllte Innenohr. Die Welle läuft dort in eine Art Schneckenhaus, die Cochlea, wo die äußeren Haarzellen die Welle hochschaukeln und den Schall bis zum Tausendfachen verstärken. Die eigentlichen Sinneszellen sind aber die inneren Haarzellen, die von der Welle wie Halme im Wind gebürstet werden und ein elektrisches Signal an den Hörnerv abgeben.

Hörhärchen umgebügelt

Ausgelegt ist dieser feine Sinn auf die Steinzeit – also auf Geräusche wie Ästeknacken oder fernes Tiergebrüll. Wer dagegen einige Stunden Lärm von mehr als 100 dB (A) pro Woche abbekommt, aus dem MP3-Spieler zum Beispiel, riskiert Tinnitus und Taubheit. Die verdichteten Luftpäckchen bügeln die Sinneshärchen im Ohr einfach nieder. Manchmal für immer. Jedes Jahr erkranken rund 5.500 Menschen an Lärmschwerhörigkeit, der am häufigsten anerkannten Berufskrankheit. Die Betroffenen: Bauarbeiter, Musiker, Lehrer und Kindergärtner.

Aber auch andere Organe kann Lärm schädigen – ebenfalls als Relikt der Urzeit: Schon das Knacken eines Astes aktiviert das Alarmzentrum im Gehirn: die Amygdala, auch Mandelkern genannt. Damit der Schlafende bei Gefahr in die Lage versetzt wird, wegrennen oder angreifen zu können, führt der Warnruf in der Amygdala dazu, dass der Körper Stresshormone wie Cortisol ausschüttet.

Menschen, die an Hauptverkehrsstraßen wohnen, befinden sich daher auch nachts im Dauerstress, wenn sie bewusst gar nichts hören. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat schon 2004 festgestellt, dass Lärm ab 45 Dezibel die Menschen später einschlafen, öfter aufwachen und kürzer schlafen lässt. Der Geräuschpegel im Schlafzimmer sollte 40 dB (A) nicht überschreiten, empfiehlt die WHO. In Berlin, Frankfurt und den Ruhrstädten plagen sich jedoch Zehntausende nachts mit einem Lärmpegel von über 55 dB (A) – und damit über der Schwelle zur Gesundheitsgefährdung.

Das verschallte Herz

Denn der Dauerstress sorgt dafür, dass die Plasmakonzentrationen von Fett und Zucker und der Blutdruck steigen. Thomas Münzel, Direktor der Klinik für Innere Medizin an der Uni Mainz, hat das nachgewiesen: Er ließ Jugendliche mit Lärm über MP3-Spieler beschallen, wenn sie sich zum Schlafen ins Bett legten. Die Kardiologen maßen die Funktionen der Arterien und stellten fest: Die Gefäßgröße veränderte sich und der obere Blutdruckwert stieg.

Die Freiwilligen erholten sich. Wer aber über Jahre in dieser Intensität beschallt wird, kann dauerhaften Schaden erleiden: Die Blutgefäße können sich verhärten und das Blut kann nicht mehr optimal durch die Gefäße in die Organe fließen. Das Herz pumpt also noch stärker. Bestätigt hat das eine Langzeitstudie des Spandauer Bezirksamtes und des Robert Koch-Instituts: Alle zwei Jahre untersuchten Ärzte etwa 2.000 Einwohner des Berliner Stadtteils, regelmäßig wurde auch die Schallbelastung gemessen. Das Ergebnis: Wer nachts mit 55 dB (A) beschallt wird, hat ein erhöhtes Risiko für Bluthochdruck. Und so harmlos das oft klingt: Das Leiden kann zu Herzinfarkten und Schlaganfällen führen. Einer aktuellen WHO-Studie zufolge haben 1,8 Prozent aller Herzinfarkte in wirtschaftlich starken EU-Ländern ihre Ursache im Verkehrslärm.

Aber auch tagsüber kann Lärm nerven. Amerikanische Wissenschaftler haben gezeigt, dass sich Schulkinder in Gebieten mit Fluglärm schlechter konzentrieren, lernen und erinnern können als in Schulen ohne solch intensiven Hintergrundlärm. Auf Dauer leidet darunter auch die Psyche, wie eine Studie der TU Berlin nahelegt: Danach fördere Fluglärm das Risiko, an einer Depression oder Migräne zu erkranken. Die Betroffenen griffen den Wissenschaftlern zufolge häufiger zu Tabletten: Antidepressiva, Blutdrucksenker, Beruhigungsmittel.

Soweit ist es mit Ernst Scheuermann noch nicht gekommen. An sich selbst will er aber bemerkt haben, dass er wesentlich häufiger erschöpft ist. Wie er sich praktisch gegen den Lärm schützen will, weiß er noch gar nicht. Erst will er gegen die Ursache kämpfen – vor Gericht.

Benjamin von Brackel wohnt in der Einflugschneise des Flughafens Berlin-Tegel – und freut sich sehr auf dessen geplante Schließung im Juni

Was tut gegen Lärm?


200 Kilometer im Südwesten von Paris liegt Angers: Die Stadt, die dem Lärm den Kampf angesagt hat. Und zwar mit Liebe im Detail: Mülltonnen-Deckel bekamen Schalldämpfer, Altglascontainer wurden in den Boden eingelassen und Bürger können sich über ein Lärmtelefon beschweren. Rasenmähen und Heimwerken sind nur noch für eine bestimmte Tageszeit erlaubt. Außerdem wurden Schulen schallgedämmt, eine Flotte mit leisen Stadtfahrzeugen gekauft und Flüsterasphalt verbaut.


Flüsterasphalt besitzt einen hohen Anteil an Hohlräumen, die den Schall der Reifengeräusche zum Teil absorbieren. Der Lärm lässt sich so um fünf bis zehn dB (A) senken. Auch auf der A9 in Höhe von Garching wurde der zweilagige offenporige Asphalt geteert.


Neben neuen Fahrbahnbeläge setzen die Städteplaner in Deutschland auf Tempolimits, Schallschutzwände und passiven Schallschutz, etwa Doppelglasfenster.


Hausbesitzer und Mieter könnten aber schon bald zum Angriff übergehen und zwar mit Gegenlärm. Das Prinzip: Trifft das Wellental einer Schallwelle auf den Wellenberg der eigentlichen Lärmquelle, so löscht er diese aus. Piloten nutzen das Phänomen der Interferenz bereits über ihre Kopfhörer. Andre Jakob, ein Akustikingenieur an der TU Berlin, hat die Technik an Schallschutzfenstern ausprobiert: Mikrofone zwischen zwei Scheiben messen den Schall, ein Computer errechnet den Gegenschall, den Lautsprecher dann ausstoßen. Etwa um die Hälfte ließe sich der Geräuschpegel so reduzieren. Bis Fensterhersteller die Idee aufgreifen, kann es aber noch dauern.


Bis dahin müssen sich Lärmgepeinigte in ihren Wohnungen selbst schützen: Schallschutzglas und Rolladenkästen mit einer Anti-Lärm-Folie mindern etwa 40 dB (A), Teppiche dämpfen die Schritte, das Schlafzimmer sollte im ruhigsten Raum sein. Pflanzen, Wandteppiche, Vorhänge oder Dämmplatten schlucken zusätzlich Schall. Bewährt haben sich außerdem schon seit dem Jahr 1908 Ohrstöpsel. Wenn das alles nicht genügt, hilft nur eines: Der Umzug.

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