Die Urwahl des Parteivorstands in der SPD

- SPD - Die Wahl des Parteivorsitzes der SPD durch die Parteibasis ist zulässig und verstößt weder gegen das Grundgesetz noch gegen das Parteiengesetz.

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Urwahl oder Wahl auf dem Delegierten-Parteitag?

Seit einigen Tagen ist in der Öffentlichkeit eine Debatte darüber entbrannt, ob die Nachfolge von Martin Schulz als Parteivorsitzender der SPD durch eine Urwahl bestimmt werden kann. Gegen eine Urwahl wird von einigen Verfassungsrechtlern und Politikern das Argument aufgeführt, im Parteiengesetz sei geregelt, dass der Parteivorsitzende einer Partei durch den Parteitag zu wählen sei, daher sei es unzulässig, diese Personalentscheidung durch die Mitglieder, d. h. duch einen Mitgliederentscheid bzw. eine Urwahl zu treffen. Sieht man sich die verfassungsrechtliche Lage und das Parteiengesetz einmal näher an, wird schnell deutlich, dass diese Rechtsauffassung nicht haltbar ist.

Artikel 21 GG - Die innere Ordnung der Parteien muß demokratischen Grundsätzen entsprechen.

In Artikel 21 des Grundgesetzes (GG) sind die grundlegenden Prinzipien, nach denen in Deutschland Parteien an der politischen Willensbildung teilnehmen, geregelt.

Artikel 21 Absatz 1 GG lautet:

"Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben."

Die einzige Regelung zur Ordnung einer Partei im Grundgesetz lautet also:

"Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen."

Hiermit kommt der Wille des Verfassungsgebers deutlich zum Ausdruck, dass die Parteien vor allem dem Prinzip der demokratischen Willensbildung verpflichtet sein sollen. Näheres sollte nach dem Willen der Mütter und Väter des Grundgesetzes durch Bundesgesetze geregelt werden.

Parteiengesetz - Basisdemokratische Entscheidungsfindung als Standard

Tatsächlich wurde erst im Jahr 1967 das Parteiengesetz durch den Bundestag beschlossen, in dem einige wenige Grundsätze der inneren Organisation von Parteien sowie deren Finanzierung geregelt wurden.

Als notwendige Organe einer Partei werden in § 8 Abs. 1 S. 1 Parteiengesetz (PartG) allein die Mitgliederversammlung und der Vorstand benannt:

Mitgliederversammlung und Vorstand sind notwendige Organe der Partei und der Gebietsverbände.

Aus der Systematik des Gesetzes und aus der Sondervorschrift des § 8 Abs. 1 S. 2 PartG ergibt sich, dass unter einer Mitgliederversammlung die Versammlung aller Mitglieder einer Partei, d. h. eine Art Vollversammlung zu verstehen ist.

In § 8 Abs. 1 S. 2 PartG ist geregelt:

Durch die Satzung kann bestimmt werden, daß in den überörtlichen Verbänden an die Stelle der Mitgliederversammlung eine Vertreterversammlung tritt,...

Der Idealfall einer Mitgliederversammlung ist nach dem Parteiengesetz somit die Vollversammlung aller Mitglieder einer Partei. Aus praktischen Erwägungen ist es nach § 8 Abs. 1 S. 2 PartG auch erlaubt, anstelle einer Vollversammlung ein System der repräsentativen Vertretung durch Delegierte einzführen. Dies ist aber nur dann erlaubt, wenn dies in der Satzung der Partei ausdrücklich geregelt ist.

Festzuhalten ist daher, dass nach dem Grundgesetz die Willensbildung innerhalb der Parteien demokratischen Grundsätzen enstprechen muss und dass nach dem Standardfall des Parteiengesetzes der innerparteiliche Entscheidungsfindungsprozess basisdemokratisch durch die Mitgliederversammlung zu erfolgen hat, die Einführung einer repräsentativen Mitgliedervertretung durch Delegierte ist nur dann zulässig, wenn dies ausdrücklich in der Satzung der Partei geregelt ist.

Der Parteitag wählt den Vorsitzenden...

Wenn nun das Grundgesetz die demokratische Willensbildung und das Parteiengesetz eine basisdemokratische Entscheidungsfindung innerhalb einer Partei als Standart definieren, wieso soll es dann nicht möglich sein, den Parteivorsitzenden der SPD durch eine Urwahl bzw. durch einen Mitgliederentscheid zu bestimmen. Die Gegner einer solchen Urwahl berufen sich unisono auf die Regelung des § 9 Abs. 4 PartG, der wie folgt lautet:

Der Parteitag wählt den Vorsitzenden des Gebietsverbandes, seine Stellvertreter und die übrigen Mitglieder des Vorstandes, die Mitglieder etwaiger anderer Organe und die Vertreter in den Organen höherer Gebietsverbände, soweit in diesem Gesetz nichts anderes zugelassen ist.

Diese Regelung scheint recht klar zu sein, der Vorsitzende der Partei wird durch den Parteitag gewählt und nicht durch die Mitglieder, könnte man denken, gerade wenn man sich anschaut, wie seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland die jeweiligen Vorsitzenden in den Parteien traditionell bestimmt wurden. Mit ganz wenigen Ausnahmen, so z. B. bei der Mitgliederbefragung der SPD im Jahr 1993, in der sich Rudolf Scharping gegen die Mitbewerber Heidemarie Wieczorek-Zeul und Gerhard Schröder durchsetzen konnte, oder bei der Piratenpartei, die ihren Vorstand grundsätzlich basisdemokratisch wählt, wurde in allen anderen Parteien der Vorsitzende fast ausschließlich durch Delegierten-Parteitage bestimmt.

Schaut man sich das Parteiengesetz aber genauer an, erkennt man, dass der juristische Begriff des "Parteitages" nicht mit dem politischen Begriff "Parteitag" deckungsgleich ist. In der aktuellen politischen Auseinandersetzung wird unter "Parteitag" einzig und allein ein Delegierten-Parteitag verstanden, wie er üblicher- und pratktischerweise in Großparteien durchgeführt wird. Das Parteiengesetz verwendet dagegen einen viel weiteren Begriff des Parteitages.

Die Mitgliederversammlung ist das oberste Organ der Partei!

Liest man in § 9 Abs. 1 des Parteiengesetztes stößt man auf folgende Regelungen:

Die Mitglieder- oder Vertreterversammlung (Parteitag, Hauptversammlung) ist das oberste Organ des jeweiligen Gebietsverbandes. Sie führt bei Gebietsverbänden höherer Stufen die Bezeichnung "Parteitag", bei Gebietsverbänden der untersten Stufe die Bezeichnung "Hauptversammlung";

In dieser Regelung wird deutlich, dass nach der Idee des Parteiengesetzes die Mitgliederversammlung, also im Standardfall die Vollversammlung aller Mitglieder, das oberste Parteiorgan und sozusagen der Souverän der Partei ist. In dieser Regelung wird aber auch klar definiert, dass die Begriffe Mitgliederversammlung und Parteitag als Synonyme verwendet werden.

So geht auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages (WD) in einer "Ausarbeitung" aus dem Jahre 2013 davon aus, dass die Wahl des Parteivorsitzes durch die alle Mitglieder einer Partei im Rahmen einer Mitgliederversammlung durch das Parteiengesetz gedeckt ist. Für die Wahl durch einen Delegierten-Parteitag würden vor allem Pratkikabilitätsgründe sprechen.

Der Staatsrechtler Morlok hat darauf hingewiesen, dass die Regelung des Parteiengesetzes, nach dem der Vorstand einer Partei durch den Parteitag gewählt werden müsse, wohl ein Verstoß gegen Art. 21 GG Grundgesetz sei. Gerade in der heutigen Zeit, in der die soziale Kommunikation sich immer weiter in den digitalen Bereich verlagert, wäre eine Auslegung des Parteingesetzes nach der nur eine Wahl auf einem Parteitag erlaubt wäre, aus meiner Sicht verfassungswidrig, da diese Regelung in unverhältnismäßiger Weise in das Selbstbestimmungsrecht der Parteien eingreifen würde.

SPD-Satzung: Mitgliederbefragung zum Parteivorsitz ist zulässig

In der Satzung der SPD ist derzeit eine Urwahl des Parteivorsitzes oder des Parteivorstandes auf Bundesebene nicht vorgesehen. Allein auf den unteren Parteieben können derzeit dieser Positionen durch die Mitgliederversammlungen besetzt werden. In § 14 Abs. 11 OrgaStatut ist aber ausdrücklich geregelt, dass vor der Wahl des Vorsitzenden eine Befragung aller Mitglieder erfolgen kann. Ein ähnliches Verfahren wurde, wie bereits oben erwähnt, in der SPD bereits im Jahr 1993 angewandt.

Ausblick - Urwahl - Satzungsänderung

Nach meiner Auffassung ist derzeit eine Urwahl des Bundesparteivorsitzenden oder des Parteivorstandes nach den Statuten der SPD noch nicht zulässig. Durch eine Satzungsänderung könnten aber die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass in Zukunft eine solche Urwahl rechlich zulässig würde. Wie oben dargestellt steht das Parteiengesetz einer solchen Urwahl nicht entgegen. Unter verfassungsrechlichen Erwägungen sollte eine solche Urwahl sogar erwünscht sein, weil sie geeignet ist maßgeblich zu einer demokratischeren Willensbildung innerhalb der Parteien beizutragen.

Andrea Nahles Argumente sind schwach

Zum Abschluss möchte ich auf ein Argument der designierten SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles hinweisen, die heute in einem Interview darauf hinwies, dass die Urwahl im Jahre 1993 gezeigt habe, dass die dort getroffene Wahl wohl nicht die richtige gewesen sei, da Rudolf Scharping schon zwei Jahre später wieder von seinem Posten abgewählt worden sei. Diese kühne Behauptung ist - wenn man die Hintergründe der Abwahl von Scharping und die beteiligten Personen kennt - und wenn man auf die nachfolgenden Parteivorsitzenden und ihre "Verweildauer" im Amt schaut, leicht zu widerlegen.

Rudolf Scharping hat noch vor wenigen Tagen auf dem Sonderparteitag der SPD für das Nahles-Projekt GroKo III geworben. Dies vor Augen, sind die respektlosen Worte, die man heute von Frau Nahles über Rudolf Scharping liest, eigentlich unerträglich. Erinnert man sich daran, dass es Andrea Nahles als damalige JUSO-Chefin war, die im Jahre 1995 auf dem Mannheimer Parteitag der SPD zusammen mit Oskar Lafontaine Rudolf Scharping gestürzt hat, kann man den Eindruck gewinnen, dass Frau Nahles auf ihrem Weg zur Macht wenig Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen scheint.

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Nun zum Argument, die Wahl von 1993 hätte gezeigt, dass Urwahlen zu falschen Ergebnissen führen würden. In den letzen 14 Jahren hat die SPD insgesamt 7 Amtszeiten von Parteivorsitzenden erlebt. Von diesen 7 Amtsperioden haben 4, d.h. Franz Müntefering (2x), Matthias Platzeck und Martin Schulz lediglich ca. 1 Jahr gedauert. Beim Fall von Franz Müntefering ist zudem erwähnenswert, dass Frau Nahles zumindest bei seinem Sturz im Jahre 2005 einen erheblichen Anteil gehabt haben soll.

Gerade das Beispiel Martin Schulz, der auf dem Parteitag der SPD erst im März 2017 mit 100 Prozent der Delegiertenstimmen gewählt wurde, zeigt, dass das derzeitige Verfahren ebenfalls kein Garant dafür ist, eine stabile und dauerhafte Parteiführung zu finden. Im Gegensatz zu einer nach demokratischen Regeln stattfindenden Urwahl, erinnert das derzeitige Verfahren, in dem ein kleiner Kreis von Amtsträgern unter sich ihren Chef oder ihre Chefin aussuchen bzw. der scheidende Chef seinen Kronprinzen oder seine Kronprinzessin kürt, an mittelalterliche Lehnsherrenschaft und ist einer modernen sozialdemokratischen Partei im 21. Jahrhundert nicht würdig.

Blick über den Kanal - Labour - Jeremy Corbyn

Als im Jahr 2015 der britische Labour Vorsitzende Ed Miliband nach einer verheerenden Niederlage sein Amt als Parteivorsitzender aufgab, wagte die Labour Partei es, ihren Parteivorsitzenden durch eine Urwahl zu bestimmen. Dabei wurde der damals in weiten Kreisen der Gesellschaft noch unbekannte Hinterbänkler Jeremy Corbyn - vor allem durch die Stimmen der jungen Parteimitglieder - zum neuen Vorsitzenden der Labour Partei gewählt. Dies geschah gegen einen breiten medialen Widerstand, bei dem sogar die linke Tageszeitung THE GUARDIAN, maßgeblich beteiligt war. Ebenso wie heute der SPD wurde der Labour Party seinerzeit das nahe Ende prophezeit. Die hohen Zustimmungswerte, die Jeremy Corbyn in seiner Partei erzielte, der plötzliche Mitgliederzuwachs von mehr als 100.000 Mitgliedern zur größten Partei Europas wurde klein geredet. Alle waren sich einig, dass Corbyn bei einer Parlamentswahl kläglich scheitern würde und die Partei damit in den Abrund reißen würde. Aus Angst um ihre Posten startete die neoliberale Mehrheit der Labour-Parlamentarier daher einen Putsch gegen Corbyn und versuchten diesen mit allen juristischen Mitteln aus der Partei zu drängen, um so ihre Machtposition in der Partei zu sichern. Wenn man auf die derzeitigen Zustimmungswerte schaut, die Labour und Jeremy Corbyn derzeit bei Umfragen erreichen, kann die Labour Partei froh sein, dass sie im Jahre 2015 den Mut zum Neuanfang hatte und mit dem relativ unbekannten Jeremy Corbyn und einer bewegten jungen Basis einen Neuanfang gewagt hat.

Der Plan der sog. Blairist, der neokonservativen Labour-Abgeordneten ging nicht auf, sondern wurde zum Bumerang. Mit Hilfe der Gewerkschaften und der Parteibasis sowie der britischen Gerichte schaffte es Corbyn zunächst mit einer Mehrheit von knapp 62 Prozent als Parteivorsitzender im Amt bestätigt zu werden und danach gegen alle Unkenrufe der publizierten Meinung bei der Unterhauswahl im Jahr 2017 einen Stimmenzuwachs von ca. 10 Prozent zu erzielen und ingesamt 40 Prozent der Wähler für Labour zu begeistern. Mittlerweile liegen die Umfragewerte für Labour teilweise besser als für die Torries. Ein Zustand von der die SPD derzeit nur träumen kann.

FOR THE MANY - NOT THE FEW - auch ein Slogan für die SPD

Die Situation der Labour Partei im Jahre 2015 war in vielen Bereichen ähnlich wie der der SPD im Jahr 2018. Wie Gerhard Schröder hatte Tony Blair ab Ende der 90er Jahre seine Partei unter der Marke "New Labour" fast zur Unkenntlichkeit hin zum Neoliberalismus "reformiert". Nach anfänglichen Wahlerfolgen merkten die Labour-Stammwähler aber, dass die neoliberale Politik ihren Interessen schadete, die Zustimmung zu "New Labour" nahm immer mehr ab und die klassischen Labour-Wähler wandten sich in großen Teilen der Rattenfängerpartei von Nigel Farage, UKIP, zu. Diese Heimatlosigkeit des klassischen Arbeitermilieus führte mit dazu, dass bei der Abstimmung über den BREXIT eine Mehrheit zustande kommen konnte.

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Obwohl, und ich würde sogar sagen, gerade weil Labour unter Jeremy Corbyn eine weltoffene, pazifistische und soziale Politik vertritt, hat die sozialdemokratische Bewegung sich in Großbitannien gestärkt und erneuert. Die Partei ist eine junge moderne und solidarische Partei geworden und hat sich für die Aufgaben der Zukunft gewappnet. Mit dem Slogan FOR THE MANY - NOT THE FEW hat sie ihre Vision einer wirklichen sozialdemokratischen Volkspartei auf den Punkt gebracht. Auch für die SPD sollte daher gelten: Nur eine Partei, die sich für die breite Masse der Bevölkerung einsetzt und diese nicht durch neoliberale Sozialreformen bedroht, die Rente des Durchsschnittsverdieners durch Privatisierung bedroht, deren soziale Sicherheit durch Abschaffung von Sozialversicherungen oder Einschränkung von Arbeitnehmerrechten bedroht, wird auch wieder von der breiten Masse der Bevölkerung gewählt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

C. Karpus

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