Ach wie gut, dass niemand weiß ...

Zensur und Urheberrecht Wird Google das neue "Ministerium für Wahrheit"?

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Wir hören von der überwachungsstaatlichen digitalen Entwicklung in China und denken, Gott!, wie schrecklich, und gut, dass uns das nicht passieren kann! Bei den Chinesen scheint die digitale Technik als Herrschaftsinstrument längst Einzug gehalten zu haben in Gestalt der sog. Versager-App, die Gescheiterte, Verarmte, Ermüdete usw. kenntlich macht.

Man bekommt zum Beispiel angezeigt, wer dem Staat noch Geld schuldet, und soll dann zu ihm hingehen und ihn „ermuntern“, seine Schulden zu begleichen. Wenn er es nicht tut, darf er nicht fliegen, sich nicht auf Dating-Foren anmelden, seine Kinder kommen nicht aufs Gymnasium und so weiter. Ein Belohnungs- und Strafsystem mit Punktevergabe entscheidet über des Chinesen gesellschaftliche Stellung, ähnlich dem guten und schlechten Karma, das ein gläubiger Buddhist durch seine Lebensführung anhäuft und das am Ende darüber entscheidet, ob er im nächsten Leben Mensch oder Wurm wird.

Wir denken, dass uns nicht passiert, was den Chinesen passiert, kaum dass sie über eine rote Ampel laufen oder im Vorbeigehen eine Weintraube stibitzen und sich dabei dummerweise von einer der allgegenwärtigen Kameras erwischen lassen. In dumpfer Leichtgläubigkeit pimpen wir unser Wissen mit Google auf, bestellen bei Amazon unsere Feierabendlektüre, tauschen uns auf Facebook über die letzte Landtagswahl aus und verabreden uns auf WhatsApp für den nächsten Workshop.

"We know where you are. We know where you've been. We can more or less know what you're thinking about!“, hat der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt schon 2011 die Welt wissen lassen. Mit jedem Klick liefern wir den drei MegaPlayern für lau, was sie reich und mächtig gemacht hat: Daten. Die Vorstellung, dass soziale Kontrolle im Sinne der Mächtigen vor allem die Kenntlichmachung der Ausscherer und Steuerung in die staatlich gewünschte Richtung bedeutet, verlangt nun nicht mehr allzu viel Fantasie.

Es liegt nicht an dem autoritären System in China – die Digitalisierung selbst enthält autoritäre Strukturen. Sie lädt geradezu zum Missbrauch ein.

Das Seltsame ist nur, dass die meisten Internet-User den Missbrauch zu akzeptieren scheinen. Mit dem neuen EU-Urheberrecht, bekannt als Art. 13 und durch das Schlagwort Uploadfilter, wird eine Infrastruktur geschaffen, die der Zensur in einem Maße den Weg ebnet, die der Orwell’schen Dystopie 1984 in nichts mehr nachsteht. Orwells Neusprech verlangt einfache Worte, keine Neuschöpfungen, keine Synonyme. Nur so ist Sprache kontrollierbar. Nur so sind Gedanken kontrollierbar, nein – nur so lässt sich das Denken überhaupt unterbinden. Der Uploadfilter, wie er angedacht ist, soll Plattformen wie YouTube, Facebook, Reddit, Twitter … dazu zwingen, Inhalte schon beim Hochladen zu prüfen und auffälliges Material herauszufiltern.

Was ist das denn anderes als Zensur? Und was ist auffälliges Material? Wie unterscheidet der Filter zwischen Satire und politischem Statement? Zwischen Originaltext und Intertextualität? Und wo wir schon so weit sind – ließen sich bestimmte Begriffe dann nicht gleich ganz rausfiltern? Etwa „Platz des Himmlischen Friedens“? „Snowden“? „NSA“? „Khashoggi“? Wer sie eingäbe, erführe – nichts. Die Begriffe würden im Netz nicht existieren. Es hätte nie einen vom saudischen Regime ermordeten, saudischen Journalisten namens Jamal Khashoggi gegeben, nie eine Enthüllungsgeschichte des Auslandgeheimdienstes NSA durch Edward Snowden, nie ein Abhören des Kanzlerin-Handys durch die NSA, nie ein Massaker auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens. Ihre Geschichten hätte es nicht gegeben, ähnlich wie es bei uns in den fünfziger Jahren keine Judenverfolgung gegeben hat. Nach wenigen Monaten wären sie im Meer des Vergessens verschwunden.

In Orwells 1984 sorgt das „Ministerium für Wahrheit“ für die öffentliche Amnesie: Winston Smiths Arbeit besteht darin, im Sinne der Partei Geschichtsklitterung zu betreiben, unbequeme Fakten, Daten und historische Ereignisse zu manipulieren oder für die Nachwelt zu löschen. Verordnetes Schweigen bzw. ein schweigendes Internet haben dieselbe Auswirkung. In China Realität. Und in der EU?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

C. Juliane Vieregge

Autorin, Bloggerin. Am 13. März 2019 ist ihr neues erzählendes Sachbuch "Lass uns über den Tod reden" im Ch. Links Verlag, Berlin, erschienen.

C. Juliane Vieregge

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