Double Binding

Klimapolitik u. Wachstum? Wie paradoxe Botschaften der Politik die gesellschaftliche Teilnahme lahmlegen

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Wir vermitteln in unseren Schulen Kenntnisse, die so umfangreich sind, dass allen Schülerinnen und Schülern eine Teilnahme an der Entwicklung des gesellschaftlichen Wissens zugänglich ist. Gleichzeitig sollen sie sich jedoch nicht daran beteiligen.
Mit diesem Spagat im Kopf müssen die jungen Leute irgendwie fertig werden – und sollen trotzdem nicht den Glauben an Autoritätspersonen wie Eltern, Lehrer, Geistliche etc. verlieren.
Es sind ein- und dieselben Autoritäten, die sowohl den zur gesellschaftlichen Teilnahme befähigenden Lernstoff vermitteln als auch die Botschaft, dass eine solche Teilnahme gar nicht möglich sei. Oder nur theoretisch, faktisch jedoch nicht (Plastikmüll einsammeln als gut gemeinter, aber ganz offensichtlich unwirksamer Beitrag). Die zweite Botschaft erfolgt eher auf dem indirekten, oft sogar unbewussten Weg, während die Wissensvermittlung direkt und bewusst geschieht.
Eine solche Schizophrenie befördernde Schizophrenie der Botschaften/Signale nennt man in der Pädagogik Double-Binding. Der Empfänger doppeldeutiger Botschaften befindet sich in dem Dilemma, dass er es dem Sender bzw. der Autoritätsperson niemals recht machen kann. Denn er kann ja immer nur einer der beiden Botschaften entsprechen, womit er der anderen widersprechen würde.
Dasselbe funktioniert auch im größeren Rahmen. Wie eine schlechte/unfähige Mutter, die ihr Kind in einem Moment in den Arm nimmt, um es im nächsten wegzustoßen, sind die Strukturen der Institutionen, der internationalen Vernetzungen, der politischen Abkommen vor allem durch die fortschreitende Globalisierung so kompliziert und undurchschaubar geworden, dass wir, ihre Kinder, am besten gleich die Finger davon lassen. Wir sind überfordert von der Widersprüchlichkeit der Botschaften. Und weil sie deren Erfüllung unmöglich macht, ziehen wir uns auf unser Privatfeld zurück: Gute Abinoten, guter Job, Familie, Auto, Haus – um wenigstens die eigenen Ansprüche zu erfüllen.
Ein aktuelles Beispiel: Seit vergangenem Wochenende existiert ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den sog. Mercosur-Staaten (Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay). Was uns die Politik verspricht: Wachstum, Wohlstand, Wettbewerb durch sinkende Zölle. Ausweitung der Fleisch- und Sojaproduktion in Argentinien und Brasilien für den EU-Markt.
Jeder, der in Zusammenhängen zu denken gelernt hat, kann sich aber ausrechnen, dass damit eine massive Abholzung des Regenwaldes einhergehen wird, oder woher sollen neue Anbau- und Weideflächen sonst kommen? Jeder, der ein bisschen informiert ist, weiß, dass Argentinien und Brasilen einen sehr lockeren Umgang mit „Pflanzenschutzmitteln“, sprich: -giften und Gentechnologien pflegen. Von der Furcht der europäischen Landwirte vor neuen Wettbewerbern, aber auch vor einer Aufweichung von Qualitätsstandards ganz zu schweigen.
Wie kann es sein, dass die europäischen Regierungschefs das Freihandelsabkommen feiern und zeitgleich eine Greta Thunberg zu ihren couragierten Auftritten beglückwünschen? Und wie sollen Schüler, Jugendliche, wir alle auf diese Paradoxie reagieren? Den Vogel hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker abgeschossen: „Handelspolitik ist ein wichtiges Instrument der Klimapolitik geworden.“
Ha ha!

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Geschrieben von

C. Juliane Vieregge

Autorin, Bloggerin. Am 13. März 2019 ist ihr neues erzählendes Sachbuch "Lass uns über den Tod reden" im Ch. Links Verlag, Berlin, erschienen.

C. Juliane Vieregge

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