Standortverteidigung

Biografische Verstrickung Der Spagat zwischen Schuld und Familienzugehörigkeitsgefühl

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Wer von denen, die sich so leidenschaftlich gegen Israel oder für die Sache der Palästinenser positionieren, macht sich in gleicher Weise für den von Saudi Arabien ausgebluteten Jemen, für die von Erdogan verfolgten Kurden stark?
Ich nehme mich hier nicht aus. Beim Thema Antisemitismus ist meine Empfindlichkeit ungleich stärker ausgeprägt, das Ungerechtigkeitsgefühl viel mehr getriggert als bei anderen Unrechtsgeschichten.
Ich stelle mal die These auf, dass das emotionale Engagement historisch begründet ist, insofern die eigenen Biografie immer an die Historie gekoppelt ist. Als Kind einer nach Nazi-Terminologie „vierteljüdischen“ Mutter bin ich mit dem Thema Judenfeindlichkeit aufgewachsen und davon sozialisiert. Als Jugendliche habe ich Leute, die mir nicht lagen, und auch solche, die mir lagen, einem Check unterzogen: Hättest du mich verraten oder nicht? Das war die ultimative Testfrage – unbewusst, manchmal durchaus störend, ploppte sie an die Oberfläche, und das tut sie hin und wieder heute noch.
Ich nehme an, dass einige von denen, die so leidenschaftlich gegen den Staat Israel Position ergreifen – und mit Israelkritik kann man wunderbar seinen Antisemitismus kaschieren – von durchaus vergleichbaren biografischen Zusammenhängen motiviert sind. Nur eben von der anderen Seite. Anders ist für mich die Unverhältnismäßigkeit der Standortverteidigung kaum zu erklären. Haben wir uns nicht lange genug geschämt für Gräueltaten, für die wir nicht verantwortlich sind? Der Opa oder Uropa war Nazi (oder SS-Offizier) – das ist schlimm, aber so what? Am Staat Israel sieht man doch, dass mit Juden nicht gut Kirschen essen ist. Könnte solche Argumentation nicht unbewusst einer Haltung geschuldet sein, die eigenen familiären Verstrickungen zu rechtfertigen, zu begründen, gar zu legitimieren?
Auffällig ist bei den Israel-Kritikern die verblüffende Ignoranz gegenüber der Gründungsgeschichte des Staates Israel. Zugegeben: sie ist etwas kompliziert. Aber wer Israel ohne den Kontext Holocaust beurteilt, hat einfach nur nichts begriffen. Wer schon mal in Israel war und sich ein eigenständiges Bild gemacht hat, wird eine andere Perspektive zulassen können. Allein der Besuch der Gedenkstätte Yad Vashem könnte die Augen öffnen – vorausgesetzt, man traut sich die Auseinandersetzung zu.
Scheuklappen machen das Leben bekanntlich leichter, unter Umständen sogar lebenslang. Wenn man das will …
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

C. Juliane Vieregge

Autorin, Bloggerin. Am 13. März 2019 ist ihr neues erzählendes Sachbuch "Lass uns über den Tod reden" im Ch. Links Verlag, Berlin, erschienen.

C. Juliane Vieregge

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