Was eine Zahl nicht erzählt

Großdemo in Berlin Kann man den Organisatoren trauen und wenn nicht, geht man trotzdem hin?

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Unglaubliche geschätzte 240.000 Menschen haben sich heute unter dem Motto "Unteilbar - Solidarität statt Ausgrenzung" - zur Großkundgebung in Berlin versammelt. Ein breites Bündnis von Verbänden, Parteien, kirchlichen Organisationen und Gewerkschaften hat im Vorfeld zur Teilnahme der Veranstaltung aufgerufen.

Außer gegen Rassismus und den Rechtsruck in Europa geht es um Sozialabbau, Wohnungsnot, Rentenabbau, Klimawandel, keine Waffenexporte nach Saudi Arabien ... nach den Transparenten zu urteilen, geht es ja irgendwie um alles (wer ist denn nicht "Für eine offene und freie Gesellschaft"), also auch darum, die Politik der GroKo anzuprangern.

Umso kurioser mutet der Zuspruch von Andrea Nahles und Heiko Maas an, die als Unterstützer der Demo auftreten (Maas: "Ein großartiges Signal!"). Zeichnen sie, bzw. die SPD, doch maßgeblich am sozialen Notstand, an der Verarmung der Rentner, an den Waffenexporten für Saudi Arabien, am Desaster im Schul- und Bildungsbereich ... verantwortlich.

Wesentlich interessanter finde ich allerdings, dass der Zentralrat der Muslime an der Unteilbar-Demonstration teilnimmt. Zu dessen Mitgliedern zählen Moscheevereine, die Islamisten und türkischen Nationalisten nahe stehen; als Beispiele seien hier nur die rechtsextremen Grauen Wölfe, die Muslimbruderschaft und die IGD (Islamische Gemeinde Deutschland) genannt. Weshalb liberale Muslime sich auch von der Unteilbar-Demo distanzieren.

Ali Ertan Toprak etwa, der Vorsitzende der
Kurdischen Gemeinde in Deutschland, sagt auf rbb, dass er seine Teilnahme abgesagt habe, nachdem er einen Blick auf die Unterstützerliste geworfen habe. "Wenn ich da mitmachen würde, würde ich meine Prinzipien verraten", wird er zitiert.

Die
IGD ist vom Bundesverfassungsschutz als islamistische Vereinigung eingestuft worden, die einen Zweig der ägyptischen Muslimbruderschaft darstellt.

An der
Unteilbar-Kundgebung teilzunehmen hieße, zusammen mit migrantischen Rechten gegen deutsche Rechte zu marschieren, so Ali Ertan Toprak: "Die Linksliberalen gehen mit diesen Vereinen unkritisch und inkonsequent um. Sie verbünden sich mit den Falschen."

Auch Seyran Ates will der Demonstration fernbleiben, weil sie sich vom
Zentralrat der Muslime nicht vertreten sieht. Als Deutschlands erste Imamin eröffnete sie 2017 die liberale Ibn-Rush-Goethe-Moschee in Berlin-Moabit. Aufgrund eines Mordanschlags, den sie überlebte, und andauernden Drohungen durch Islamisten steht sie seit Jahren unter Polizeischutz. Ein Schicksal, das sie übrigens mit Cem Özdemir teilt.

Seyran Ates findet es "sehr irritierend", dass die Organisatoren von
Unteilbar die Verflechtungen des Zentralrats mit islamistischen und rechtsextremen Gruppen nicht störe: "Es ist eine sehr naive Idee von Toleranz, wenn man mit Leuten auf die Straße geht, die keine Toleranz wollen." Und: "Meine Heimat Deutschland wird zurzeit von deutschen wie von türkischen Nazis bedroht."

Nicht zuletzt die Gruppe
Ehrlos statt wehrlos boykottiert die Unteilbar-Demo. Das Bündnis gegen Neuköllner Unzumutbarkeiten engagiert sich gegen homo- und transphobe Übergriffe. "Man gibt einer allseits gefälligen Bündnis- und Bekenntnispolitik den Vorzug vor jeder kritischen Auseinandersetzung", heißt es auf der Facebookseite der Gruppe [externer Link]. Und weiter: "Wir werden uns am 13. Oktober nicht mit Islamisten, Antisemiten und Freunden autoritärer Staaten gemein machen."

Ich habe Angst vor Vereinfachungen. Vor einer naiver Sichtweise, nur um als Menschenfreund dazustehen. Vor Ignoranz um des lieben Friedens Willen. Ich habe Angst vor mangelnder Solidarität mit den Opfern religionsfaschistischer Ideologien.

Wieweit reicht bei den 240.000 DemonstrantInnen die Toleranz im konkreten Fall? Etwa, wenn es um Kippa- und Schläfenlockenträger geht? Das würde mich brennend interessieren.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

C. Juliane Vieregge

Autorin, Bloggerin. Am 13. März 2019 ist ihr neues erzählendes Sachbuch "Lass uns über den Tod reden" im Ch. Links Verlag, Berlin, erschienen.

C. Juliane Vieregge

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