Das Leben in den Zeiten der Corona; AC 2.24

Das Logbuch geht weiter: Steine, die nicht mehr rollen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Charlie Watts ist tot. Auch schwarz auf weiß, von mir selbst getippt, kann ich diese Nachricht noch nicht richtig glauben.

Auf welchem Wege ich im Herbst 1980 von John Bonhams Tod erfahren habe ich, weiß ich nicht mehr genau. Er kam plötzlich, aber leider nicht allzu überraschend – hatte ich doch wenige Monate zuvor erlebt, wie er im laufenden Konzert vom Schlagzeughocker fiel, wusste um seinen Alkoholismus und war bereits auf das Schlimmste vorbereitet. Etwas später kam ein Mitschüler mit der Nachricht in die Klasse gerannt, John Lennon sei erschossen worden (… in meiner Erinnerung liegt dessen Tod vor dem Bonhams – vielleicht, weil die Beatles meine erste, Led Zeppelin allerdings erst meine dritte Lieblingsband waren?). Wir waren entsetzt, wie konnte man bloß einen Beatle umbringen, und dann noch den, der sich für Frieden und Gleichberechtigung einsetzte? Ein Attentat auf Paul, George oder Ringo, die mir persönlich sympathischer waren als John, wäre wohl noch schlimmer für mich gewesen, doch generell war der Tod noch sehr unwirklich für mich. Das Privileg einer Jugend, die in Frieden und Wohlstand aufwächst. Auch Benno Ohnesorg und die RAF haben den gewaltsamen Tod, zumindest für mich, zu etwas eher abstraktem als etwas realem gemacht. Als ich am Todestag meines geliebten Großvaters abends in die Disco ging, war ich mir keiner Schuld bewusst – er kam für mich als etwas Natürliches und am Ende einer Krankheit. Er wurde über 80 Jahre alt und das Trauern hatte noch Zeit bis zum nächsten Tag. Im Studium wurde ich dann mehrmals mit dem unnatürlichen Sterben konfrontiert – zumeist waren es Selbstmorde, die uns fassungslos machten. Dass Rockstars jung sterben, haben wir dagegen früh gelernt; einige meiner Favoriten waren bereits tot, als ich sie das erste Mal hörte. Irgendwann, erst vor wenigen Jahren, startete ich mit einem Freund eine Radiosendung, die sich gerade verstorbenen Musikern widmete. Aus zunächst einer bis zwei Stunden wurde innerhalb kürzester Zeit eine ganze Nacht, die wir mehrmals im Jahr sendeten. Der Tod rückte immer näher an uns heran, wir wurden zu Chronisten des zuende gehenden Zeitalters des Modern Jazz. Auch die häufig zu früh Sterbenden anderer Genres beschäftigten und bewegten uns und Bowies Tod glich einem Fanal: Mehr noch als bei Michael Jackson oder Prince hatte ich das Gefühl, dass nun die Ära des glamourösen, kunstvollen und zeitlos avantgardistischen Pop beendet sei.

All das ist nicht gleichzusetzen mit dem Abschied von Charlie Watts – auch wenn der als künstlerische Autorität nicht an die oben aufgeführten Musiker heranreichen mag. Denn Charlie Watts war nicht nur ein Musiker – er war eine Institution. Er spielte bereits professionell Schlagzeug, als ich geboren wurde, und in seiner kantigen Erscheinung wirkte er schon in seinen jungen Jahren ungewöhnlich seriös und erwachsen, unsbesondere für einen Rockmusiker. Charlie wirkte älter als Bill Wyman, obwohl er jünger war – und in den letzten Jahren auch älter als Keith, obwohl der doppelt so alt aussieht. Er war das bescheidenste und zurückhaltendste Bandmitglied, betonte bei frühen Fernsehauftritten sogar, dass er den anderen teilnehmenden Künstlern viel lieber zuhöre als selbst zu spielen. Er befand seine eigene Band nicht als würdig genug, neben diesen für ihn besseren Musikern aufzutreten. Sein Schlagzeugspiel war oft geprägt von distanzierter, britischer Distingiertheit, er spielte songdienlich reduziert und den linken Trommelstock hielt er nicht wie ein Rocker, sondern wie ein Jazzer. Das blieb in den Zeiten der Trommel- und Beckenakrobaten mit ihren bis zu zwanzigminüten Soli so und änderte sich auch nicht, als die Disco-Musik den Beat monotonisierte. Charlie Watts wurde nie durch einen Drum-Computer ersetzt – selbst, als bemerkt wurde, dass die Stones in ihrem Rhythmus nicht die Präzision besaßen, die mittlerweile in Pop- und Rock-Produktionen als Standard galt. Bei Watts flogen keine Schlagzeugteile über die Bühne, Stöcke ins Publikum oder lange Haare durch das Gesicht. Er trommelte stoisch, bisweilen hölzern von Anfang bis Ende durch – egal, was drumherum passierte – ob das Publikum nun den Saal zerlegte oder sich mit Ordnungskräften prügelte. Und leider auch, als der erste belegte Mord auf einem Rock-Konzert begangen wurde.

Als bekennender Beatle-Fan war ich immer auf der Seite der Pilzköpfe, doch als Allround-Musikliebhaber kam auch ich nicht an den Steinen vorbei. Als ich mit Sechzehn ein Hero sein wollte und für meine Kumpels und mich im Kaufhaus Platten klaute (die gab es damals noch, im Erdgeschoss von “Horten”), wurde ich vom Detektiv erwischt. Um mich von derartigem Blödsinn in Zukunft abzuhalten, ging meine Mutter mit mir (pädagogisch wertvoll!) in genau dieses Kaufhaus und fragte mich, welche der Platten ich denn für mich hätte abzweigen wollen. Dann bezahlte sie es, das Doppelalbum “Rolled Gold” von den Stones – eine Platte von ABBA hätte ich bestimmt niemals geklaut. Ich war noch in dem Alter, in dem man dachte, die Band sei gefährlicher oder gar illegaler als andere.

Später stand mir die Band noch einmal auf andere Weise Pate: Als ich in die DDR übersiedelte und mir eine Bekannte anbot, dass ich bei ihr wohnen könne. Ihr größter Wunsch war es, die Band, die von DJs auf FDJ-Tanzversanstaltungen gerne als “Michael Jäger Combo” angekündigt worden war, einmal live zu sehen. 1990 besuchten wir das Hannover-Konzert der “Steel Wheels Tour”. Der Deal war, dass sie den Ticket-Preis symbolisch in Ostmark bezahlt. Eine Mietzahlung für das von mir bewohnte Zimmer war danach kein Thema mehr.

Nun stellt sich die Frage, ob die Stones jemals wieder auftreten werden. Nach dem ersten Todesfall innerhalb der Band sind weiter getourt. Der liegt über 50 Jahre zurück, über ein halbes Jahrhundert. In der Band war Charlie Watts die rythmische Verbindung von Gitarre und Bass, in der westlichen Musikgeschichte markiert er mit seiner Band den Übergang von einer traditionellem, erwachsenenbestimmten Weltordnung in eine jugendliche, lebens- und konsumorientierte Gesellschaft, aus der die Popmusik nicht mehr wegzudenken ist. Charlie Watts blieb stets ein zurückhaltender britischer Gentleman, der das tat, was zu tun war und der weder um sich, noch um seine Meinung oder Bedürfnisse viel Wirbel machte.

P. S.: Heute erwähnte jemand, dass die eigentlich mit Charlie Watts geplante und aufgrund seiner Krankheit ausgefallene Tour nun doch (mit einem anderen Drummer) nachgeholt werden soll. Auch wenn das stimmen sollte gilt für mich: Es hat sich ausgerollt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden