Das Leben in den Zeiten der Corona; AC 2.8

Das Logbuch geht weiter: Ü-60-Party statt Musikfestival

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Nun steht es sogar schon in unserem lokalen Abschreibeblatt: Diesen Sommer werden wir eine Corona-Zweiklassengesellschaft haben: Die doppelt Geimpften dürfen mehr als die Ungeimpften, wer Corona schon hatte, darf auch mit nur einem “Pieks”. Aber was eigentlich? Die großen Festivals werden abgesagt, wir dürfen gespannt sein auf Ü-60-Partys. Die werde ich leider nicht erleben – denn obschon im Juni 60 Jahre alt, werde ich dann noch ungeimpft sein. Aber will ich überhaupt auf solche Partys, wenn meine Partnerin noch keine 60 ist und nicht mitdarf? Sie übrigens wird im Mai zum ersten Mal geimpft und erhält die zweite Spritze Ende Juni. Dann endlich darf sie wenigstens in ihrer Altersklasse mitfeiern – sebstverständlich auch weiterhin nur mit Maske.

Apropos: Als Ersatz für den entfallenen “Tanz in den Mai” gibt es dieses Jahr den “Totentanz”: Bereits an Corona verstorbene Mitbürger werden mit Nachdruck eingeladen, endlich ihre Impfung abzuholen. Damit sie wieder das dürfen, was sie doch gar nicht mehr können.

Ob das auch in Lieg so sein wird? Wir erinnern uns: Der kleine Ort im Hunsrück hatte in den ganzen vergangenen vierzehn Monaten keinen einzigen Covid-Fall. Auch Tübingen machte seinem Ruf als Universitätsstadt mit einer intelligenten Corona-Bekämpfung alle Ehre – doch eines ist trotz der disparaten Politik unserer Siebzehnerbande klar: Unterhalb ihrer Phalanx darf niemand einen eigenen, womöglich erfolgreicheren Weg als den ihren durch die Krise gehen.

Auf meiner permanenten Suche nach interessanten Interview-Partnern für meinen Radio-Podcast fällt mir die Harfenistin Ellen wieder ein. Schon seit Jahren will ich sie anrufen, doch ein rechter Anlass hat sich bisher nicht ergeben. Aus den geplanten fünf Telefonminuten wird fast eine Stunde. Ellen ist aufgebracht, kann nicht fassen, was mit unserer Kultur gerade passiert und weist mich auf ihren YouTube-Kanal hin, auf dem sie sich äußert. Vor einer riesigen Musikbibliothek, zwischen ihren Harfen sitzend. Jedes Wort habe sie sich in ihren bisher 16 Videos wohl überlegt, um auch bloß nichts zu sagen, was gegen sie ausgelegt werden könnte.

Unser Gespräch nehme ich zum Anlass, über “Systemrelevanz” nachzudenken. Haben wir ein “Schweinesystem” – wie Autonome und Linke schon lange behaupten? “Auf gar keinen Fall!”, schreit es in mir. Um ganz sicher zu sein, vergleiche ich zwei Betriebsformen: Den Schlachthof und das Opernhaus. Im Schlachthof wird gearbeitet. Bei Corona freundlichen acht Grad Celsius werden täglich zig- bis hunderttausende von Tieren getötet, verarbeitet und in den Handel gebracht. Dabei kann der Mensch auch mit wenig, ja sogar ganz ohne Fleisch überleben. Im Opernhaus wird nicht gearbeitet – zumindest nicht öffentlich sicht- und hörbar. Trotz besserer Hygienekonzepte, als sie anscheinend in Schlachthöfen möglich sind. Musik brauchen wir nach Ansicht der Bestimmer nicht, Fleisch hingegen schon. Und Profi-Fußballspiele im Fernsehen, während der Amateurkick weiterhin ausfällt.

Ethisch leben wir so ähnlich wie vor über 2000 Jahren die Kelten und Römer: Als Fleisch essende Barbaren ohne Hochkultur und als Veranstalter international besetzter Gladiatorenkämpfe. Die Kunst der Metallveredelung, welche die Kelten damals besser als die Römer beherrschten, haben mittlerweile Mercedes und VW übernommen, und damit ihren ökonomischen Feldzug auf das Reich der Mitte ausgeweitet. Im Gegenzug hängen in stark zunehmendem Maße wir selbst an den Fäden des fernöstlichen Produktions- und Exportwahns. Ob uns diese Kombination weiterbringt, darf angesichts des Endes der beiden oben genannten Kulturen zumindest angezweifelt werden.

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